Programm
Stufenfolge poetischer Kräfte
§ 6
Einbildungkraft
Einbildungkraft ist die Prose der Bildungkraft oder Phantasie. Sie ist nichts als eine potenzierte hellfarbigere Erinnerung, welche auch die Tiere haben, weil sie träumen und weil sie fürchten. Ihre Bilder sind nur zugeflogne Abblätterungen von der wirklichen Welt; Fieber, Nervenschwäche, Getränke können diese Bilder so verdicken und beleiben, daß sie aus der innern Welt in die äußere treten und darin zu Leibern erstarren.
§ 7
Bildungkraft oder Phantasie
Aber etwas Höheres ist die Phantasie oder Bildungkraft, sie ist die Welt-Seele der Seele und der Elementargeist der übrigen Kräfte; darum kann eine große Phantasie zwar in die Richtungen einzelner Kräfte, z.B. des Witzes, des Scharfsinns u.s.w., abgegraben und abgeleitet werden, aber keine dieser Kräfte lässet sich zur Phantasie erweitern. Wenn der Witz das spielende Anagramm der Natur ist: so ist die Phantasie das Hieroglyphen-Alphabet derselben, wovon sie mit wenigen Bildern ausgesprochen wird. Die Phantasie macht alle Teile zu Ganzen – statt daß die übrigen Kräfte und die Erfahrung aus dem Naturbuche nur Blätter reißen – und alle Weltteile zu Welten, sie totalisieret alles, auch das unendliche All; daher tritt in ihr Reich der poetische Optimismus, die Schönheit der Gestalten, die es bewohnen, und die Freiheit, womit in ihrem Äther die Wesen wie Sonnen gehen. Sie führt gleichsam das Absolute und das Unendliche der Vernunft näher und anschaulicher vor den sterblichen Menschen. Daher braucht sie so viel Zukunft und so viel Vergangenheit, ihre beiden Schöpfung-Ewigkeiten, weil keine andere Zeit unendlich oder zu einem Ganzen werden kann; nicht aus einem Zimmer voll Luft, sondern erst aus der ganzen Höhe der Luftsäule kann das Ätherblau eines Himmels geschaffen werden.
Z.B. Auf der Bühne ist nicht der sichtbare Tod tragisch, sondern der Weg zu ihm. Fast kalt sieht man den Mordstoß; und daß diese Kälte nicht von der bloßen Gemeinheit der sichtbaren Wirklichkeit entstehe, beweiset das Lesen, wo sie wiederkommt. Hingegen das verdeckte Töten gibt der Phantasie ihre Unendlichkeit zurück; ja daher ist, weil sie den Todesweg rückwärts macht, eine Leiche wenigstens tragischer als ein Tod. So ist das Wort Schicksal in der Tragödie selber die unendliche des Weltall, der Minengang der Phantasie. Nicht das Schwert des Schicksals, sondern die Nacht, aus der es schlägt, erschreckt; daher ist nicht sein Hereinbrechen (wie in Wallenstein), sondern sein Hereindrohen (wie in der Braut von Messina) echt und tragisch. Hat sich dieser Gorgonenkopf dem Leben aufgedeckt gezeigt, so ist es toter Stein; aber der Schleier über dem Haupte lässet langsam die kalte Versteinerung die warmen Adern durchdringen und füllen. Daher wird in der Braut von Messina der giftige Riesenschatte der schwarzen Zukunft am besten – aber bis zur Parodie – durch den freudigen Tanz der blinden Opfer unter dem Messer gezeigt; unser Voraussehen ist besser, als unser Zurücksehen wäre.
Wer die Entzückung auf die Bühne bringen wollte – was so schwer ist, da der Schmerz mehr Glieder und Übungen zum Ausspruche hat als die Freude –, der gebe sie einem Menschen im Schlafe; wenn er ein einzigesmal entzückt lächelt, so hat er uns ein sprachloses Glück erzählt, und es entfliegt ihm, sobald er das Auge aufschließt.
Schon im Leben übet die Phantasie ihre kosmetische Kraft; sie wirft ihr Licht in die fernstehende nachregnende Vergangenheit und umschließet sie mit dem glänzenden Farben- und Friedenbogen, den wir nie erreichen; sie ist die Göttin der Liebe; sie ist die Göttin der Jugend.21 Aus demselben Grunde, warum ein lebengroßer Kopf in der Zeichnung größer erscheint als sein Urbild, oder warum eine bloß in Kupfer gestochene Gegend durch ihre Abschließung mehr verspricht, als das Original hält, aus eben diesem Grunde glänzt jedes erinnerte Leben in seiner Ferne wie eine Erde am Himmel, nämlich die Phantasie drängt die Teile zu einem abgeschlossenen heiteren Ganzen zusammen. Sie könnte zwar ebensowohl ein trübes Ganze bauen; aber spanische Luftschlösser voll Marterkammern stellet sie nur in die Zukunft; und nur Belvederes in die Vergangenheit. Ungleich dem Orpheus, gewinnen wir unsere Eurydice durch Rückwärts- und verlieren sie durch Vorwärtsschauen.
§ 8
Grade der Phantasie
Wir wollen sie durch ihre verschiedenen Grade bis zu dem begleiten, wo sie unter dem Namen Genie poetisch erschafft. Der kleinste ist, wo sie nur empfängt. Da es aber kein bloßes Empfangen ohne Erzeugen oder Erschaffen gibt; da jeder die poetische Schönheit nur chemisch und in Teilen bekommt, die er organisch zu einem Ganzen bilden muß, um sie anzuschauen: so hat jeder, der einmal sagte: das ist schön, wenn er auch im Gegenstande irrte, die phantastische Bildungkraft. Und wie könnte denn ein Genie nur einen Monat, geschweige jahrtausendelang von der ungleichartigen Menge erduldet oder gar erhoben werden ohne irgendeine ausgemachte Familienähnlichkeit mit ihr? Bei manchen Werken gehts den Menschen so, wie man von der Clavicula Salomonis erzählt: sie lesen darin zufällig, ohne im geringsten eine Geister-Erscheinung zu bezwecken, und plötzlich tritt der zornige Geist vor sie aus der Luft.
§ 9
Das Talent
Die zweite Stufe ist diese, daß mehre Kräfte vorragen, z.B. der Scharfsinn, Witz, Verstand, mathematische, historische Einbildungkraft u.s.w., indes die Phantasie niedrig steht. Dieses sind die Menschen von Talent, deren Inneres eine Aristokratie oder Monarchie ist, so wie das genialische eine theokratische Republik. Da, scharf genommen, das Talent, nicht das Genie Instinkt hat, d.h. einseitigen Strom aller Kräfte: so entbehrt es aus demselben Grunde die poetische Besonnenheit, aus welchem dem Tiere die menschliche abgeht. Die des Talents ist nur partiell; sie ist nicht jene hohe Sonderung der ganzen innern Welt von sich, sondern nur etwa von der äußern. In dem Doppelchor, welches den ganzen vollstimmigen Menschen fodert, nämlich im poetischen und philosophischen, überschreiet der melodramatische Sprachton des Talents beide Sing-Chöre, geht aber zu den Zuhörern drunten als die einzige deutliche Musik hinunter.
In der Philosophie ist das bloße Talent ausschließend-dogmatisch, sogar mathematisch und daher intolerant (denn die rechte Toleranz wohnt nur im Menschen, der die Menschheit widerspiegelt), und es numeriert die Lehrgebäude und sagt, es wohne No. 1. oder 99. oder so, indes sich der große Philosoph im Wunder der Welt, im Labyrinthe voll unzähliger Zimmer halb über, halb unter der Erde aufhält. Von Natur hasset der talentvolle Philosoph, sobald er seine Philosophie hat, alles Philosophieren; denn nur der Freie liebt Freie.
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