Da er nur quantitativ22 von der Menge verschieden ist: so kann er ihr ganz auffallen, gefallen, vorleuchten, einleuchten und ihr alles sein, ohne Zeit im Moment; denn so hoch er auch stehe, und so lang er auch messe: so braucht sich ja jeder nur als Elle an ihm, dem Kommensurablen, umzuschlagen, sofort hat er dessen Größe; indes das Feuer und der Ton der Qualität nicht an die Ellen und in die Waage der Quantität zu bringen ist. In der Poesie wirkt das Talent mit einzelnen Kräften, mit Bildern, Feuer, Gedankenfülle und Reize auf das Volk und ergreift gewaltig mit seinem Gedicht, das ein verklärter Leib mit einer Spießbürgerseele ist; denn Glieder erkennt die Menge leicht, aber nicht Geist, leicht Reize, aber nicht Schönheit. Der ganze Parnaß steht voll von Poesien, die nur helle, auf Verse wie auf Verstärkungflaschen gezogne Prose sind; poetische Blumenblätter, die gleich den botanischen bloß durch das Zusammenziehen der Stengelblätter entstehen. Da es kein Bild, keine Wendung, keinen einzelnen Gedanken des Genies gibt, worauf das Talent im höchsten Feuer nicht auch käme – nur auf das Ganze nicht –: so lässet sich dieses eine Zeitlang mit jenem verwechseln, ja das Talent prangt oft als grüner Hügel neben der kahlen Alpe des Genies, bis es an seiner Nachkommenschaft stirbt, wie jedes Lexikon am bessern. Talente können sich untereinander, als Grade, vernichten und erstatten; Genies, als Gattungen, aber nicht. Bilder, witzige, scharfsinnige, tiefsinnige Gedanken, Sprachkräfte, alle Reize werden bei der Zeit, wie bei dem Polypen, aus der Nahrung zuletzt die Farbe derselben; anfangs bestehlen ein paar Nachahmer, dann das Jahrhundert, und so kommt das talentvolle Gedicht, wie ähnliche Philosophie, die mehr Resultate als Form besitzt, an der Verbreitung um. Hingegen das Ganze oder der Geist kann nie gestohlen werden; und noch im ausgeplünderten Kunstwerk (z.B. im Homer) wohnet er, wie im nachgebeteten Plato, groß und jung und einsam fort. Das Talent hat nichts Vortreffliches, als was nachahmlich ist, z.B. Ramler, Wolff der Philosoph etc. etc.

 

§ 10

 

Passive Genies

Die dritte Klasse erlaube man mir weibliche, empfangende oder passive Genies zu nennen, gleichsam die in poetischer Prose geschriebenen Geister.

Wenn ich sie so beschreibe, daß sie, reicher an empfangender als schaffender Phantasie, nur über schwache Dienstkräfte zu gebieten haben, und daß ihnen im Schaffen jene geniale Besonnenheit abgehe, die allein von dem Zusammenklang aller und großer Kräfte erwacht: so fühl' ich, daß unsere Definitionen entweder nur naturhistorische Fachwerke nach Staubfäden und nach Zähnen sind, oder chemische Befundzettel organischer Leichen. Es gibt Menschen, welche – ausgestattet mit höherem Sinn als das kräftige Talent, aber mit schwächerer Kraft – in eine heiliger offne Seele den großen Weltgeist, es sei im äußern Leben oder im innern des Dichtens und Denkens, aufnehmen, welche treu an ihm, wie das zarte Weib am starken Manne, das Gemeine verschmähend, hängen und bleiben, und welche doch, wenn sie ihre Liebe aussprechen wollen, mit gebrochnen, verworrenen Sprachorganen sich quälen und etwas anderes sagen, als sie wollen. Ist der Talent-Mensch der künstlerische Schauspieler und froh nachhandelnde Affe des Genies, so sind diese leidenden Grenz-Genies die stillen, ernsten, aufrechten Wald- oder Nachtmenschen desselben, denen das Verhängnis die Sprache abgeschlagen. Es sind – wenn nach den Indiern die Tiere die Stummen der Erde sind – die Stummen des Himmels. Jeder halte sich heilig, der Tiefere und der Höhere! denn eben diese sind für die Welt die Mittler zwischen Gemeinheit und Genie, welche gleich Monden die geniale Sonne versöhnend der Nacht zuwerfen.

Philosophisch- und poetischfrei fassen sie die Welt und Schönheit an und auf; aber wollen sie selber gestalten, so bindet eine unsichtbare Kette die Hälfte ihrer Glieder, und sie bilden etwas Anderes oder Kleineres? als sie wollten. Im Empfinden herrschen sie mit besonnener Phantasie über alle Kräfte; im Erfinden werden sie von einer Nebenkraft umschlungen und vor den Pflug der Gemeinheit gespannt.

Eins von beiden macht ihre Schöpfungstage zu unglücklichen. Entweder ihre Besonnenheit, welche auf fremde Schöpfungen so hell schien, wird über der eignen zur Nacht – sie verlieren sich in sich, und ihnen geht zum Bewegen ihrer Welt, bei allen Hebeln in den Händen, der Stand auf einer zweiten ab –; oder ihre Besonnenheit ist nicht die geniale Sonne, deren Licht erzeugt, sondern ein Mond davon, dessen Licht erkältet. Sie geben leichter fremden Stoffen Form als eignen und bewegen sich freier in fremder Sphäre als in der eignen, so wie dem Menschen im Traume das Fliegen23 leichter wird als das Laufen.

Wiewohl unähnlich dem Talentmenschen, der nur Weltteile und Weltkörper, keinen Weltgeist zur Anschauung bringen kann, und wiewohl eben darum ähnlich dem Genie, dessen erstes und letztes Kennzeichen eine Anschauung des Universums: so ist doch bei den passiven Genies die Welt-Anschauung nur eine Fortsetzung und Fortbildung einer fremden genialen.

Ich will einige Beispiele unter den – Toten suchen, wiewohl Beispiele wegen der unerschöpflichen Mischungen und Mitteltinten der Natur immer über die Zeichnung hinausfärben. Wohin gehört Diderot in der Philosophie und Rousseau in der Poesie? So augenscheinlich zu den weiblichen Grenzgenies; indes jener dichtend, dieser denkend mehr zeugte als empfing.24

In der Philosophie gehört zwar Bayle gewiß zu den passiven Genies; aber Lessing – ihm in Gelehrsamkeit, Freiheit und Scharfsinn ebenso verwandt als überlegen – wohin gehört er mit seinem Denken? – Nach meiner furchtsamen Meinung ist mehr sein Mensch ein aktives Genie als sein Philosoph. Sein allseitiger Scharfsinn zersetzte mehr, als sein Tiefsinn feststellte. Auch seine geistreichsten Darstellungen mußten sich in die Wolffischen Wortformen gleichsam einsargen lassen. Indes war er, ohne zwar wie Plato, Leibniz, Hemsterhuis etc. der Schöpfer einer philosophischen Welt zu sein, doch der verkündigende Sohn eines Schöpfers und eines Wesens mit ihm. Mit einer genialen Freiheit und Besonnenheit war er im negativen Sinne ein frei-dichtender Philosoph, wie Plato im positiven, und glich dem großen Leibniz darin, daß er in sein festes System die Strahlen jedes fremden dringen ließ, wie der schimmernde Diamant ungeachtet seiner harten Dichtigkeit den Durchgang jedes Lichts erlaubt und das Sonnenlicht sogar festbehält. Der gemeine Philosoph gleicht dem Korkholze, biegsam, leicht, voll Öffnungen, doch unfähig, Licht durchzulassen und zu behalten.

Unter den Dichtern stehe den weiblichen Genies Moritz voran. Das wirkliche Leben nahm er mit poetischem Sinne auf; aber er konnte kein poetisches gestalten. Nur in seinem Anton Reiser und Hartknopf zieht sich, wenn nicht eine heitere Aurore, doch die Mitternachtröte der bedeckten Sonne über der bedeckten Erde hin; aber niemals geht sie bei ihm als heiterer Phöbus auf, zeigend den Himmel und die Erde zugleich in Pracht. Wie erkältet dagegen oft Sturz mit dem Glanze einer herrlichen Prose, die aber keinen neuen Geist zu offenbaren, sondern nur Welt-und Hofwinkel hell zu erleuchten hat! Wo man nichts zu sagen weiß, ist der Reichtag- und Reichanzeiger-Stil viel besser – weil er wenigstens in seinen Selbst-Harlekin umzudenken ist – als der prunkende, gekrönte, geldauswerfende, der vor sich her ausrufen lässet: Er kommt! Auch Novalis und viele seiner Muster und Lobredner gehören unter die genialen Mannweiber, welche unter dem Empfangen zu zeugen glauben.

Indes können solche Grenz-Genies durch Jahre voll Bildung eine gewisse geniale Höhe und Freiheit ersteigen und, wie ein dissoner Griff auf der Lyra, durch Verklingen immer zärter, reiner und geistiger werden; doch wird man ihnen, so wie dem Talent das Nachbilden der Teile, so das Nachbilden des Geistes anmerken.

Aber niemand scheide zu kühn. Jeder Geist ist korinthisches Erz, aus Ruinen und bekannten Metallen unkenntlich geschmolzen. Wenn Völker an der Gegenwart steil und hoch hinaufwachsen können, warum nicht Geister an der Vergangenheit? – Geister abmarken, heißet den Raum in Räume verwandeln und die Luftsäulen messen, wo man oben nicht mehr Knauf und Äther sondern kann.

Gibt es nicht Geister-Mischlinge, erstlich der Zeiten, zweitens der Länder? – Und da zwei Zeiten oder zwei Länder an doppelten Polen verbunden werden können, gibt es nicht ebenso schlimmste als beste? – Die schlimmen will ich übergehen.