Allerdings ahmen sie der Natur nach, aber einem Stücke, nicht der ganzen, nicht deren freiem Geiste mit einem freien Geist. – Die Neuheit ihrer Empfindungen muß ihnen als eine Neuheit der Gegenstände vorkommen; und durch die erstern glauben sie die letzten zu geben. Daher werfen sie sich entweder ins Unbekannte und Unbenannte, in fremde Länder und Zeiten ohne Individualität, nach Griechenland und Morgenland10, oder vorzüglich auf das Lyrische; denn in diesem ist keine Natur nachzuahmen als die mitgebrachte; worin ein Farbenklecks schon sich selber zeichnet und umreißet. Bei Individuen, wie bei Völkern, ist daher Abfärben früher als Abzeichnen, Bilderschrift eher als Buchstabenschrift. Daher suchen dichtende Jünglinge, diese Nachbarn der Nihilisten, z.B. eben Novalis oder auch Kunst-Romanschreiber, sich gern einen Dichter oder Maler oder anderen Künstler zum darzustellenden Helden aus,[33] weil sie in dessen weisen, alle Darstellungen umfassenden Künstlerbusen und Künstlerraum alles, ihr eignes Herz, jede eigne Ansicht und Empfindung kunstgerecht niederlegen können; sie liefern daher lieber einen Dichter als ein Gedicht.

Kommt nun vollends zur Schwäche der Lage die Schmeichelei des Wahns, und kann der leere Jüngling seine angeborne Lyrik sich selber für eine höhere Romantik ausgeben: so wird er mit Versäumung aller Wirklichkeit – die eingeschränkte in ihm selber ausgenommen – sich immer weicher und dünner ins gesetzlose Wüste verflattern; und wie die Atmosphäre wird er sich gerade in der höchsten Höhe ins kraft- und formlose Leere verlieren.

Um deswillen ist einem jungen Dichter nichts so nachteilig als ein gewaltiger Dichter, den er oft lieset; das beste Epos in diesem zerschmilzt zur Lyra in jenem. Ja, ich glaube, ein Amt ist in der Jugend gesünder als ein Buch – obwohl in spätern Jahren das Umgekehrte gilt. – Das Ideal vermischt sich am leichtesten mit jedem Ideal, d.h. das Allgemeine mit dem Allgemeinen. Dann holet der blühende junge Mensch die Natur aus dem Gedicht, anstatt das Gedicht aus der Natur. Die Folge davon und die Erscheinung ist die, welche aus allen Buchläden heraussieht: nämlich Farben-Schatten statt der Leiber; nicht einmal nachsprechende, sondern nachklingende Bilder von Urbildern – fremde, zerschnittene Gemälde werden zu musaischen Stiften neuer Bilder zusammengereiht – und man geht mit fremden poetischen Bildern um, wie im Mittelalter mit heiligen, von welchen man Farben loskratzte, um solche im Abendmahlwein zu nehmen.[34]

 

Fußnoten

 

9 Und seltsam genug mußten zu oft die Heldendichter in Lebens-Stürmen ohne Land und Hafen sterben; und in das Leben eines Camoens, Tassos, Miltons, Dantens, Homers fiel so wenig Sonnenlicht, indes viele Trauerspiel-Dichter oft das Beispiel glücklichster Menschen gaben, z.B. zuerst Sophokles, dann Lope de Vega, Shakespeare, Voltaire etc.

10 Nach Kant ist die Bildung der Weltkörper leichter zu deduzieren als die Bildung einer Raupe. Dasselbe gilt für das Besingen, und ein bestimmter Kleinstädter ist schwerer poetisch darzustellen als ein Nebel-Held aus Morgenland; so wie nach Skaliger (de Subtil. ad Card. Exerc. 359. Sect. 13) ein Engel leichter einen Körper annimmt (weil er weniger braucht) als eine Maus.

 

§ 3
Poetische Materialisten

Aber ist es denn einerlei, die oder der Natur nachzuahmen, und ist Wiederholen Nachahmen? – Eigentlich hat der Grundsatz, die Natur treu zu kopieren, kaum einen Sinn. Da es nämlich unmöglich ist, ihre Individualität durch irgendein Nachbild zu erschöpfen; da folglich das letzte allezeit zwischen Zügen, die es wegzulassen, und solchen, die es aufzunehmen hat, auswählen muß: so[34] geht die Frage der Nachahmung in die neue über, nach welchem Gesetze, an welcher Hand die Natur sich in das Gebiet der Poesie erhebe.

Der gemeinste Nachdrucker der Wirklichkeit bekennt doch, daß die Weltgeschichte noch keine Epopöe sei – obgleich in einem höhern Sinne wohl –, daß ein wahrer guter Liebesbrief noch in keinen Roman sich schicke – und daß ein Unterschied sei zwischen den Landschaftgemälden des Dichters und zwischen den Auen- und Höhen-Vermessungen des Reisebeschreibers. – Wir führen alle bei Gelegenheit leicht unser ordentliches Gespräch mit Nebenmenschen; gleichwohl ist nichts seltener als ein Schriftsteller, der einen lebendigen Dialog schreiben kann. Warum ist ein Lager noch kein Wallensteinisches von Schiller, das doch vor einem wirklichen wenigstens nicht den Reiz der Ganzheit voraushat?

Hermes' Romane besitzen beinahe alles, was man zu einem poetischen Körper fordert, Weltkenntnis, Wahrheit, Einbildungkraft, Form, Zartsinn, Sprache; da aber ihnen der poetische Geist fehlt, so sind sie die besten Romane gegen Romane und gegen deren zufälliges Gift; man muß sehr viel Geld in Banken und im Hause haben, um die Dürftigkeit, wenn sie in seinen Werken gedruckt vorkommt, lachend auszuhalten. Allein das ist eben unpoetisch. Ungleich der Wirklichkeit, die ihre prosaische Gerechtigkeit und ihre Blumen in unendlichen Räumen und Zeiten austeilet, muß eben die Poesie in geschlossenen beglücken; sie ist die einzige Friedengöttin der Erde und der Engel, der uns, und wär' es nur auf Stunden, aus Kerkern auf Sterne führt; wie Achilles' Lanze muß sie jede Wunde heilen, die sie sticht.11 Gäbe es denn sonst etwas Gefährlicheres als einen Poeten, wenn dieser unsere Wirklichkeit noch vollends mit seiner und uns also mit einem eingekerkerten Kerker umschlösse? Sogar der Zweck sittlicher Bildung, den sich der ebengenannte Romanprediger Hermes vorsetzt,[35] wird, da er ihm mit einem widerdichterischen Geiste nachsetzt, nicht nur verfehlt, sondern sogar gefährdet und untergraben (z.B. im Romane für Töchter edler Herkunft und in der Foltergeschichte des widerlichen moralischen Selbst-Kerkermeisters Herr Kerker).

Gleichwohl bereitet auch der falsche Nachstich der Wirklichkeit einige Lust, teils weil er belehrt, teils weil der Mensch so gern seinen Zustand zu Papier gebracht und ihn aus der verworrenen persönlichen Nähe in die deutlichere objektive Ferne geschoben sieht. Man nehme den Lebentag eines Menschen ganz treu, ohne Farbenmuscheln, nur mit dem Dintenfasse zu Protokoll und lasse ihn den Tag wieder lesen: so wird er ihn billigen und sich wie von lauen linden Wellen umkräuselt verspüren. Sogar einen fremden Lebentag heißet er eben darum gut im Gedicht. Keinen wirklichen Charakter kann der Dichter – auch der komische – aus der Natur annehmen, ohne ihn, wie der Jüngste Tag die Lebendigen, zu verwandeln für Hölle oder Himmel. Gesetzt, irgendein wild und weltfremder Charakter existierte, als der einzige, ohne irgendeine symbolische Ähnlichkeit mit andern Menschen: so könnt' ihn kein Dichter gebrauchen und abzeichnen.

Auch die humoristischen Charaktere Shakespeares sind allgemeine, symbolische, nur aber in die Verkröpfungen und Wülste des Humors gesteckt.

Man erlaube mir noch einige Beispiele von unpoetischen Repetierwerken der großen Weltuhr. »Brockes irdisches Vergnügen in Gott« ist eine so treue dunkle Kammer der äußerlichen Natur, daß ein wahrer Dichter sie wie einen Reisebeschreiber der Alpen, ja wie die Natur selber benutzen kann; er kann nämlich unter den umhergeworfenen Farbenkörnern wählen und sie zu einem Gemälde verreiben. – Die dreimal aufgelegte Luciniade von Lacombe, welche die Geburthelferkunst12 (welch ein Gegen- oder Widerstand für die Poesie!) besingt, so wie die meisten Lehrgedichte, welche uns ihren zerhackten Gegenstand Glied für Glied, obwohl jedes in einige poetische Goldflittern gewickelt,[36] zuzählen, zeigen, wie weit prosaische Nachäffung der Natur abstehe von poetischer Nachahmung. –

Am ekelsten aber tritt diese Geistlosigkeit im Komischen vor.