Das Wunder fliege weder als Tag- noch als Nachtvogel, sondern als Dämmerungschmetterling. Meisters Wunderwesen liegt nicht im hölzernen Räderwerk – es könnte polierter und stählern sein –, sondern in Mignons und des Harfenspielers etc. herrlichem geistigen Abgrund, der zum Glück so tief ist, daß die nachher hineingelassenen Leitern aus Stammbäumen viel zu kurz ausfallen. Daher ist eine Geisterfurcht besser als eine Geistererscheinung, ein Geisterseher besser als hundert Geistergeschichten20; nicht das gemeine physische Wunder, sondern das Glauben daran malt das Nachtstück der Geisterwelt. Das Ich ist der fremde Geist, vor dem es schauert, der Abgrund, vor dem es zu stehen glaubt; und bei der Theaterversenkung ins unterirdische Reich sinkt eben der Zuschauer, welcher sinken sieht.

Hat indes einmal ein Dichter die bedeutende Mitternachtstunde in einem Geiste schlagen lassen: dann ist es ihm auch erlaubt, ein mechanisches zerlegbares Räderwerk von Gaukler-Wundern in Bewegung zu setzen; denn durch den Geist erhält der Körper mimischen Sinn, und jede irdische Begebenheit wird in ihm eine überirdische.

Ja es gibt schöne innere Wunder, deren Leben der Dichter nicht mit dem psychologischen Anatomiermesser zerlegen darf, wenn er auch könnte. In Schlegels – zu wenig erkanntem – Florentin sieht eine Schwangere immer ein schönes Wunderkind, das mit ihr nachts die Augen aufschlägt, ihr stumm entgegenläuft u.s.w. und welches unter der Entbindung auf immer verschwindet.

Die Auflösung lag nahe; aber sie wurde mit poetischem Rechte unterlassen. Überhaupt haben die innern Wunder den Vorzug, daß sie ihre Auflösung überleben. Denn das große unzerstörliche Wunder ist der Menschen-Glaube an Wunder, und die größte Geistererscheinung ist die unsrer Geisterfurcht in einem hölzernen[45] Leben voll Mechanik. Daher trüben sich die himmlischen Charakter-Sonnen zu einem Klümpchen Erde ein, wenn der Dichter uns aus ihrem Voll-Lichte vor ihre Wiege hinführt. Zuweilen ist es romantische Pflicht, der Nachgeschichte wie der Vorgeschichte eines wunderbaren Charakters die Decke zu lassen; und der Verfasser des Titans wird schwerlich, wenn er anders Ästhetiker genug ist, Schoppens Vorzeit oder der verschwundnen Lindas Nachzeit malen. So wünsch' ich beinahe, ich wüßte gar nicht, wer Mignon und der Harfenspieler von Geburt an eigentlich gewesen. So wohnt man in Werners Söhnen des Tals der mit Schauern prangenden Aufnahme in den Tempelorden bei; das ungeheuere Welträtsel versprechen Nachtstimmen zu erraten, und in tiefer Ferne werden von vorüberfliegenden Nebeln Bergspitzen aufgedeckt, auf welchen der Mensch in die ersehnte andere oder zweite Welt, die eigentlich unsere erste und letzte bleibt, weit hineinschauen kann. Endlich bringt der Dichter uns und die Sache auf die gedachten Bergspitzen, und ein Logenmeister tut uns kund, was der Orden haben und geben wolle, nämlich gutes moralisches Betragen, und da liegt die alte Sphinx tot vor uns auf ihren steinernen Vieren, von einem Steinmetz ausgehauen. Will man dem tragischen Dichter nicht unrecht tun, so nimmt man alles vielleicht am besten für einen Scherz auf die meisten Tempel- und Sakristei-Ordenherren, welche mehr durch Verziffern als Entziffern glänzen und mehr vor Ausgeschloßnen als vor Auserkornen.

Wir treten nun dem Geiste der Dichtkunst näher, dessen bloßer äußerer Nahrungsstoff in der nachgeahmten Natur noch weit von seinem innern abgeschieden bleibt.

Wenn der Nihilist das Besondere in das Allgemeine durchsichtig zerlässet – und der Materialist das Allgemeine in das Besondere versteinert und verknöchert –: so muß die lebendige Poesie eine solche Vereinigung beider verstehen und erreichen, daß jedes Individuum sich in ihr wiederfindet, und folglich, da Individuen sich einander ausschließen, jedes nur sein Besonderes in einem Allgemeinen, kurz, daß sie dem Monde ähnlich wird, welcher nachts dem einen Wanderer im Walde von Gipfel zu Gipfel nach[46] folgt, zu gleicher Zeit auch einem andern von Welle zu Welle, und so jedem, indes er bloß seinen großen Bogen-Gang am Himmel zieht, aber doch am Ende wirklich um die Erde und um die Wanderer auch.[47]

 

Fußnoten

 

20 So viele Wunder im Titan auch durch den Maschinisten, den Kahlkopf zu bloßen Kunststücken herabsinken: so ist der Betrüger doch selber ein Wunder, und unter dem Täuschen anderer treten neue Erscheinungen dazu, welche ihn täuschen und erschüttern.

 

II. Programm

Stufenfolge poetischer Kräfte

 

§ 6
Einbildungkraft

Einbildungkraft ist die Prose der Bildungkraft oder Phantasie. Sie ist nichts als eine potenzierte hellfarbigere Erinnerung, welche auch die Tiere haben, weil sie träumen und weil sie fürchten. Ihre Bilder sind nur zugeflogne Abblätterungen von der wirklichen Welt; Fieber, Nervenschwäche, Getränke können diese Bilder so verdicken und beleiben, daß sie aus der innern Welt in die äußere treten und darin zu Leibern erstarren.

 

§ 7
Bildungkraft oder Phantasie

Aber etwas Höheres ist die Phantasie oder Bildungkraft, sie ist die Welt-Seele der Seele und der Elementargeist der übrigen Kräfte; darum kann eine große Phantasie zwar in die Richtungen einzelner Kräfte, z.B. des Witzes, des Scharfsinns u.s.w., abgegraben und abgeleitet werden, aber keine dieser Kräfte lässet sich zur Phantasie erweitern. Wenn der Witz das spielende Anagramm der Natur ist: so ist die Phantasie das Hieroglyphen-Alphabet derselben, wovon sie mit wenigen Bildern ausgesprochen wird. Die Phantasie macht alle Teile zu Ganzen – statt daß die übrigen Kräfte und die Erfahrung aus dem Naturbuche nur Blätter reißen – und alle Weltteile zu Welten, sie totalisieret alles, auch das unendliche All; daher tritt in ihr Reich der poetische Optimismus, die Schönheit der Gestalten, die es bewohnen, und[47] die Freiheit, womit in ihrem Äther die Wesen wie Sonnen gehen. Sie führt gleichsam das Absolute und das Unendliche der Vernunft näher und anschaulicher vor den sterblichen Menschen. Daher braucht sie so viel Zukunft und so viel Vergangenheit, ihre beiden Schöpfung-Ewigkeiten, weil keine andere Zeit unendlich oder zu einem Ganzen werden kann; nicht aus einem Zimmer voll Luft, sondern erst aus der ganzen Höhe der Luftsäule kann das Ätherblau eines Himmels geschaffen werden.

Z.B. Auf der Bühne ist nicht der sichtbare Tod tragisch, sondern der Weg zu ihm. Fast kalt sieht man den Mordstoß; und daß diese Kälte nicht von der bloßen Gemeinheit der sichtbaren Wirklichkeit entstehe, beweiset das Lesen, wo sie wiederkommt. Hingegen das verdeckte Töten gibt der Phantasie ihre Unendlichkeit zurück; ja daher ist, weil sie den Todesweg rückwärts macht, eine Leiche wenigstens tragischer als ein Tod. So ist das Wort Schicksal in der Tragödie selber die unendliche des Weltall, der Minengang der Phantasie. Nicht das Schwert des Schicksals, sondern die Nacht, aus der es schlägt, erschreckt; daher ist nicht sein Hereinbrechen (wie in Wallenstein), sondern sein Hereindrohen (wie in der Braut von Messina) echt und tragisch. Hat sich dieser Gorgonenkopf dem Leben aufgedeckt gezeigt, so ist es toter Stein; aber der Schleier über dem Haupte lässet langsam die kalte Versteinerung die warmen Adern durchdringen und füllen. Daher wird in der Braut von Messina der giftige Riesenschatte der schwarzen Zukunft am besten – aber bis zur Parodie – durch den freudigen Tanz der blinden Opfer unter dem Messer gezeigt; unser Voraussehen ist besser, als unser Zurücksehen wäre.

Wer die Entzückung auf die Bühne bringen wollte – was so schwer ist, da der Schmerz mehr Glieder und Übungen zum Ausspruche hat als die Freude –, der gebe sie einem Menschen im Schlafe; wenn er ein einzigesmal entzückt lächelt, so hat er uns ein sprachloses Glück erzählt, und es entfliegt ihm, sobald er das Auge aufschließt.

Schon im Leben übet die Phantasie ihre kosmetische Kraft; sie wirft ihr Licht in die fernstehende nachregnende Vergangenheit[48] und umschließet sie mit dem glänzenden Farben- und Friedenbogen, den wir nie erreichen; sie ist die Göttin der Liebe; sie ist die Göttin der Jugend.21 Aus demselben Grunde, warum ein lebengroßer Kopf in der Zeichnung größer erscheint als sein Urbild, oder warum eine bloß in Kupfer gestochene Gegend durch ihre Abschließung mehr verspricht, als das Original hält, aus eben diesem Grunde glänzt jedes erinnerte Leben in seiner Ferne wie eine Erde am Himmel, nämlich die Phantasie drängt die Teile zu einem abgeschlossenen heiteren Ganzen zusammen.