Manchmal
dachte er, es könne gar nicht fehlen, dieser falsche Enthusiasmus
müsse zu überwältigen und ein so guter Mensch auf den rechten Weg zu
bringen sein. In dieser Hoffnung fuhr er fort: "Es haben die Großen
dieser Welt sich der Erde bemächtiget, sie leben in Herrlichkeit und
Überfluß. Der kleinste Raum unsers Weltteils ist schon in Besitz
genommen, jeder Besitz befestigt, Ämter und andere bürgerliche
Geschäfte tragen wenig ein; wo gibt es nun noch einen rechtmäßigeren
Erwerb, eine billigere Eroberung als den Handel? Haben die Fürsten
dieser Welt die Flüsse, die Wege, die Häfen in ihrer Gewalt und nehmen
von dem, was durch- und vorbeigeht, einen starken Gewinn: sollen wir
nicht mit Freuden die Gelegenheit ergreifen und durch unsere Tätigkeit
auch Zoll von jenen Artikeln nehmen, die teils das Bedürfnis, teils
der Übermut den Menschen unentbehrlich gemacht hat? Und ich kann dir
versichern, wenn du nur deine dichterische Einbildungskraft anwenden
wolltest, so könntest du meine Göttin als eine unüberwindliche
Siegerin der deinigen kühn entgegenstellen. Sie führt freilich lieber
den Ölzweig als das Schwert; Dolch und Ketten kennt sie gar nicht:
aber Kronen teilet sie auch ihren Lieblingen aus, die, es sei ohne
Verachtung jener gesagt, von echtem, aus der Quelle geschöpftem Golde
und von Perlen glänzen, die sie aus der Tiefe des Meeres durch ihre
immer geschäftigen Diener geholt hat."
Wilhelmen verdroß dieser Ausfall ein wenig, doch verbarg er seine
Empfindlichkeit; denn er erinnerte sich, daß Werner auch seine
Apostrophen mit Gelassenheit anzuhören pflegte. Übrigens war er billig
genug, um gerne zu sehen, wenn jeder von seinem Handwerk aufs beste
dachte; nur mußte man ihm das seinige, dem er sich mit Leidenschaft
gewidmet hatte, unangefochten lassen.
"Und dir", rief Werner aus, "der du an menschlichen Dingen so
herzlichen Anteil nimmst, was wird es dir für ein Schauspiel sein,
wenn du das Glück, das mutige Unternehmungen begleitet, vor deinen
Augen den Menschen wirst gewährt sehen! Was ist reizender als der
Anblick eines Schiffes, das von einer glücklichen Fahrt wieder anlangt,
das von einem reichen Fange frühzeitig zurückkehrt! Nicht der
Verwandte, der Bekannte, der Teilnehmer allein, ein jeder fremde
Zuschauer wird hingerissen, wenn er die Freude sieht, mit welcher der
eingesperrte Schiffer ans Land springt, noch ehe sein Fahrzeug es ganz
berührt, sich wieder frei fühlt und nunmehr das, was er dem falschen
Wasser entzogen, der getreuen Erde anvertrauen kann. Nicht in Zahlen
allein, mein Freund, erscheint uns der Gewinn; das Glück ist die
Göttin der lebendigen Menschen, und um ihre Gunst wahrhaft zu
empfinden, muß man leben und Menschen sehen, die sich recht lebendig
bemühen und recht sinnlich genießen."
I. Buch, 11. Kapitel
Elftes Kapitel
Es ist nun Zeit, daß wir auch die Väter unsrer beiden Freunde näher
kennenlernen; ein paar Männer von sehr verschiedener Denkungsart,
deren Gesinnungen aber darin übereinkamen, daß sie den Handel für das
edelste Geschäft hielten und beide höchst aufmerksam auf jeden Vorteil
waren, den ihnen irgend eine Spekulation bringen konnte. Der alte
Meister hatte gleich nach dem Tode seines Vaters eine kostbare
Sammlung von Gemälden, Zeichnungen, Kupferstichen und Antiquitäten ins
Geld gesetzt, sein Haus nach dem neuesten Geschmacke von Grund aus
aufgebaut und möbliert und sein übriges Vermögen auf alle mögliche
Weise gelten gemacht. Einen ansehnlichen Teil davon hatte er dem
alten Werner in die Handlung gegeben, der als ein tätiger Handelsmann
berühmt war und dessen Spekulationen gewöhnlich durch das Glück
begünstigt wurden. Nichts wünschte aber der alte Meister so sehr, als
seinem Sohne Eigenschaften zu geben, die ihm selbst fehlten, und
seinen Kindern Güter zu hinterlassen, auf deren Besitz er den größten
Wert legte. Zwar empfand er eine besondere Neigung zum Prächtigen, zu
dem, was in die Augen fällt, das aber auch zugleich einen innern Wert
und eine Dauer haben sollte. In seinem Hause mußte alles solid und
massiv sein, der Vorrat reichlich, das Silbergeschirr schwer, das
Tafelservice kostbar; dagegen waren die Gäste selten, denn eine jede
Mahlzeit ward ein Fest, das sowohl wegen der Kosten als wegen der
Unbequemlichkeit nicht oft wiederholt werden konnte. Sein Haushalt
ging einen gelassenen und einförmigen Schritt, und alles, was sich
darin bewegte und erneuerte, war gerade das, was niemandem einigen
Genuß gab.
Ein ganz entgegengesetztes Leben führte der alte Werner in einem
dunkeln und finstern Hause. Hatte er seine Geschäfte in der engen
Schreibstube am uralten Pulte vollendet, so wollte er gut essen und
womöglich noch besser trinken, auch konnte er das Gute nicht allein
genießen: neben seiner Familie mußte er seine Freunde, alle Fremden,
die nur mit seinem Hause in einiger Verbindung standen, immer bei
Tische sehen; seine Stühle waren uralt, aber er lud täglich jemanden
ein, darauf zu sitzen. Die guten Speisen zogen die Aufmerksamkeit der
Gäste auf sich, und niemand bemerkte, daß sie in gemeinem Geschirr
aufgetragen wurden. Sein Keller hielt nicht viel Wein, aber der
ausgetrunkene ward gewöhnlich durch einen bessern ersetzt.
So lebten die beiden Väter, welche öfter zusammenkamen, sich wegen
gemeinschaftlicher Geschäfte beratschlagten und eben heute die
Versendung Wilhelms in Handelsangelegenheiten beschlossen.
"Er mag sich in der Welt umsehen", sagte der alte Meister, "und
zugleich unsre Geschäfte an fremden Orten betreiben; man kann einem
jungen Menschen keine größere Wohltat erweisen, als wenn man ihn
zeitig in die Bestimmung seines Lebens einweiht. Ihr Sohn ist von
seiner Expedition so glücklich zurückgekommen, hat seine Geschäfte so
gut zu machen gewußt, daß ich recht neugierig bin, wie sich der
meinige beträgt; ich fürchte, er wird mehr Lehrgeld geben als der
Ihrige."
Der alte Meister, welcher von seinem Sohne und dessen Fähigkeiten
einen großen Begriff hatte, sagte diese Worte in Hoffnung, daß sein
Freund ihm widersprechen und die vortrefflichen Gaben des jungen
Mannes herausstreichen sollte. Allein hierin betrog er sich; der alte
Werner, der in praktischen Dingen niemandem traute als dem, den er
geprüft hatte, versetzte gelassen: "Man muß alles versuchen; wir
können ihn ebendenselben Weg schicken, wir geben ihm eine Vorschrift,
wonach er sich richtet; es sind verschiedene Schulden einzukassieren,
alte Bekanntschaften zu erneuern, neue zu machen. Er kann auch die
Spekulation, mit der ich Sie neulich unterhielt, befördern helfen;
denn ohne genaue Nachrichten an Ort und Stelle zu sammeln, läßt sich
dabei wenig tun."
"Er mag sich vorbereiten", versetzte der alte Meister, "und so bald
als möglich aufbrechen. Wo nehmen wir ein Pferd für ihn her, das sich
zu dieser Expedition schickt?"
"Wir werden nicht weit danach suchen. Ein Krämer in H***, der uns
noch einiges schuldig, aber sonst ein guter Mann ist, hat mir eins an
Zahlungs Statt angeboten; mein Sohn kennt es, es soll ein recht
brauchbares Tier sein."
"Er mag es selbst holen, mag mit dem Postwagen hinüberfahren, so ist
er übermorgen beizeiten wieder da, man macht ihm indessen den
Mantelsack und die Briefe zurechte, und so kann er zu Anfang der
künftigen Woche aufbrechen."
Wilhelm wurde gerufen, und man machte ihm den Entschluß bekannt. Wer
war froher als er, da er die Mittel zu seinem Vorhaben in seinen
Händen sah, da ihm die Gelegenheit ohne sein Mitwirken zubereitet
worden! So groß war seine Leidenschaft, so rein seine Überzeugung, er
handle vollkommen recht, sich dem Drucke seines bisherigen Lebens zu
entziehen und einer neuen, edlern Bahn zu folgen, daß sein Gewissen
sich nicht im mindesten regte, keine Sorge in ihm entstand, ja daß er
vielmehr diesen Betrug für heilig hielt. Er war gewiß, daß ihn Eltern
und Verwandte in der Folge für diesen Schritt preisen und segnen
sollten, er erkannte den Wink eines leitenden Schicksals an diesen
zusammentreffenden Umständen.
Wie lang ward ihm die Zeit bis zur Nacht, bis zur Stunde, in der er
seine Geliebte wiedersehen sollte! Er saß auf seinem Zimmer und
überdachte seinen Reiseplan, wie ein künstlicher Dieb oder Zauberer in
der Gefangenschaft manchmal die Füße aus den festgeschlossenen Ketten
herauszieht, um die Überzeugung bei sich zu nähren, daß seine Rettung
möglich, ja noch näher sei, als kurzsichtige Wächter glauben.
Endlich schlug die nächtliche Stunde; er entfernte sich aus seinem
Hause, schüttelte allen Druck ab und wandelte durch die stillen Gassen.
Auf dem großen Platze hub er seine Hände gen Himmel, fühlte alles
hinter und unter sich; er hatte sich von allem losgemacht. Nun dachte
er sich in den Armen seiner Geliebten, dann wieder mit ihr auf dem
blendenden Theatergerüste, er schwebte in einer Fülle von Hoffnungen,
und nur manchmal erinnerte ihn der Ruf des Nachtwächters, daß er noch
auf dieser Erde wandle.
Seine Geliebte kam ihm an der Treppe entgegen, und wie schön! wie
lieblich! In dem neuen weißen Negligè empfing sie ihn, er
glaubte sie noch nie so reizend gesehen zu haben. So weihte sie das
Geschenk des abwesenden Liebhabers in den Armen des gegenwärtigen ein,
und mit wahrer Leidenschaft verschwendete sie den ganzen Reichtum
ihrer Liebkosungen, welche ihr die Natur eingab, welche die Kunst sie
gelehrt hatte, an ihren Liebling, und man frage, ob er sich glücklich,
ob er sich selig fühlte.
Er entdeckte ihr, was vorgegangen war, und ließ ihr im allgemeinen
seinen Plan, seine Wünsche sehen. Er wolle unterzukommen suchen, sie
alsdann abholen, er hoffe, sie werde ihm ihre Hand nicht versagen.
Das arme Mädchen aber schwieg, verbarg ihre Tränen und drückte den
Freund an ihre Brust, der, ob er gleich ihr Verstummen auf das
günstigste auslegte, doch eine Antwort gewünscht hätte, besonders da
er sie zuletzt auf das bescheidenste, auf das freundlichste fragte, ob
er sich denn nicht Vater glauben dürfe. Aber auch darauf antwortete
sie nur mit einem Seufzer, einem Kusse.
I. Buch, 12. Kapitel
Zwölftes Kapitel
Den andern Morgen erwachte Mariane nur zu neuer Betrübnis; sie fand
sich sehr allein, mochte den Tag nicht sehen, blieb im Bette und
weinte.
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