Kaum
ließ das Übermaß der ersten Freude nach, so stellte sich das hell vor
seine Seele, was ihn bisher dunkel durchwühlt hatte. "Sie ist dein!
Sie hat sich dir hingegeben! Sie, das geliebte, gesuchte, angebetete
Geschöpf, dir auf Treu und Glauben hingegeben; aber sie hat sich
keinem Undankbaren überlassen." Wo er stand und ging, redete er mit
sich selbst; sein Herz floß beständig über, und er sagte sich in einer
Fülle von prächtigen Worten die erhabensten Gesinnungen vor. Er
glaubte den hellen Wink des Schicksals zu verstehen, das ihm durch
Marianen die Hand reichte, sich aus dem stockenden, schleppenden
bürgerlichen Leben herauszureißen, aus dem er schon so lange sich zu
retten gewünscht hatte. Seines Vaters Haus, die Seinigen zu verlassen
schien ihm etwas Leichtes. Er war jung und neu in der Welt, und sein
Mut, in ihren Weiten nach Glück und Befriedigung zu rennen, durch die
Liebe erhöht. Seine Bestimmung zum Theater war ihm nunmehr klar; das
hohe Ziel, das er sich vorgesteckt sah, schien ihm näher, indem er an
Marianens Hand hinstrebte, und in selbstgefälliger Bescheidenheit
erblickte er in sich den trefflichen Schauspieler, den Schöpfer eines
künftigen Nationaltheaters, nach dem er so vielfältig hatte seufzen
hören. Alles, was in den innersten Winkeln seiner Seele bisher
geschlummert hatte, wurde rege. Er bildete aus den vielerlei Ideen
mit Farben der Liebe ein Gemälde auf Nebelgrund, dessen Gestalten
freilich sehr ineinanderflossen; dafür aber auch das Ganze eine desto
reizendere Wirkung tat.
I. Buch, 10. Kapitel
Zehntes Kapitel
Er saß nun zu Hause, kramte unter seinen Papieren und rüstete sich zur
Abreise. Was nach seiner bisherigen Bestimmung schmeckte, ward
beiseite gelegt; er wollte bei seiner Wanderung in die Welt auch von
jeder unangenehmen Erinnerung frei sein. Nur Werke des Geschmacks,
Dichter und Kritiker, wurden als bekannte Freunde unter die Erwählten
gestellt; und da er bisher die Kunstrichter sehr wenig genutzt hatte,
so erneuerte sich seine Begierde nach Belehrung, als er seine Bücher
wieder durchsah und fand, daß die theoretischen Schriften noch meist
unaufgeschnitten waren. Er hatte sich, in der völligen Überzeugung
von der Notwendigkeit solcher Werke, viele davon angeschafft und mit
dem besten Willen in keines auch nur bis in die Hälfte sich
hineinlesen können.
Dagegen hatte er sich desto eifriger an Beispiele gehalten und in
allen Arten, die ihm bekannt worden waren, selbst Versuche gemacht.
Werner trat herein, und als er seinen Freund mit den bekannten Heften
beschäftigt sah, rief er aus: "Bist du schon wieder über diesen
Papieren? Ich wette, du hast nicht die Absicht, eins oder das andere
zu vollenden! Du siehst sie durch und wieder durch und beginnst
allenfalls etwas Neues."
"Zu vollenden ist nicht die Sache des Schülers, es ist genug, wenn er
sich übt."
"Aber doch fertigmacht, so gut er kann."
"Und doch ließe sich wohl die Frage aufwerfen, ob man nicht eben gute
Hoffnung von einem jungen Menschen fassen könne, der bald gewahr wird,
wenn er etwas Ungeschicktes unternommen hat, in der Arbeit nicht
fortfährt und an etwas, das niemals einen Wert haben kann, weder Mühe
noch Zeit verschwenden mag."
"Ich weiß wohl, es war nie deine Sache, etwas zustande zu bringen, du
warst immer müde, eh es zur Hälfte kam. Da du noch Direktor unsers
Puppenspiels warst, wie oft wurden neue Kleider für die
Zwerggesellschaft gemacht, neue Dekorationen ausgeschnitten? Bald
sollte dieses, bald jenes Trauerspiel aufgeführt werden, und höchstens
gabst du einmal den fünften Akt, wo alles recht bunt durcheinanderging
und die Leute sich erstachen."
"Wenn du von jenen Zeiten sprechen willst, wer war denn schuld, daß
wir die Kleider, die unsern Puppen angepaßt und auf den Leib
festgenäht waren, heruntertrennen ließen und den Aufwand einer
weitläufigen und unnützen Garderobe machten? Warst du's nicht, der
immer ein neues Stück Band zu verhandeln hatte, der meine Liebhaberei
anzufeuern und zu nützen wußte?"
Werner lachte und rief aus: "Ich erinnere mich immer noch mit Freuden,
daß ich von euren theatralischen Feldzügen Vorteil zog wie Lieferanten
vom Kriege. Als ihr euch zur Befreiung Jerusalems rüstetet, machte
ich auch einen schönen Profit wie ehemals die Venezianer im ähnlichen
Falle. Ich finde nichts vernünftiger in der Welt, als von den
Torheiten anderer Vorteil zu ziehen."
"Ich weiß nicht, ob es nicht ein edleres Vergnügen wäre, die Menschen
von ihren Torheiten zu heilen."
"Wie ich sie kenne, möchte das wohl ein eitles Bestreben sein. Es
gehört schon etwas dazu, wenn ein einziger Mensch klug und reich
werden soll, und meistens wird er es auf Unkosten der andern."
"Es fällt mir eben recht der 'Jüngling am Scheidewege' in die Hände",
versetzte Wilhelm, indem er ein Heft aus den übrigen Papieren
herauszog, "das ist doch fertig geworden, es mag übrigens sein, wie es
will."
"Leg es beiseite, wirf es ins Feuer!" versetzte Werner. "Die
Erfindung ist nicht im geringsten lobenswürdig; schon vormals ärgerte
mich diese Komposition genug und zog dir den Unwillen des Vaters zu.
Es mögen ganz artige Verse sein; aber die Vorstellungsart ist
grundfalsch. Ich erinnere mich noch deines personifizierten Gewerbes,
deiner zusammengeschrumpften, erbärmlichen Sibylle. Du magst das Bild
in irgendeinem elenden Kramladen aufgeschnappt haben. Von der
Handlung hattest du damals keinen Begriff; ich wüßte nicht, wessen
Geist ausgebreiteter wäre, ausgebreiteter sein müßte als der Geist
eines echten Handelsmannes. Welchen Überblick verschafft uns nicht
die Ordnung, in der wir unsere Geschäfte führen! Sie läßt uns
jederzeit das Ganze überschauen, ohne daß wir nötig hätten, uns durch
das Einzelne verwirren zu lassen. Welche Vorteile gewährt die
doppelte Buchhaltung dem Kaufmanne! Es ist eine der schönsten
Erfindungen des menschlichen Geistes, und ein jeder gute Haushalter
sollte sie in seiner Wirtschaft einführen."
"Verzeih mir", sagte Wilhelm lächelnd, "du fängst von der Form an, als
wenn das die Sache wäre; gewöhnlich vergeßt ihr aber auch über eurem
Addieren und Bilanzieren das eigentliche Fazit des Lebens."
"Leider siehst du nicht, mein Freund, wie Form und Sache hier nur eins
ist, eins ohne das andere nicht bestehen könnte. Ordnung und Klarheit
vermehrt die Lust zu sparen und zu erwerben. Ein Mensch, der übel
haushält, befindet sich in der Dunkelheit sehr wohl; er mag die Posten
nicht gerne zusammenrechnen, die er schuldig ist. Dagegen kann einem
guten Wirte nichts angenehmer sein, als sich alle Tage die Summe
seines wachsenden Glückes zu ziehen. Selbst ein Unfall, wenn er ihn
verdrießlich überrascht, erschreckt ihn nicht; denn er weiß sogleich,
was für erworbene Vorteile er auf die andere Waagschale zu legen hat.
Ich bin überzeugt, mein lieber Freund, wenn du nur einmal einen
rechten Geschmack an unsern Geschäften finden könntest, so würdest du
dich überzeugen, daß manche Fähigkeiten des Geistes auch dabei ihr
freies Spiel haben können."
"Es ist möglich, daß mich die Reise, die ich vorhabe, auf andere
Gedanken bringt."
"O gewiß! Glaube mir, es fehlt dir nur der Anblick einer großen
Tätigkeit, um dich auf immer zu dem Unsern zu machen; und wenn du
zurückkommst, wirst du dich gern zu denen gesellen, die durch alle
Arten von Spedition und Spekulation einen Teil des Geldes und
Wohlbefindens, das in der Welt seinen notwendigen Kreislauf führt, an
sich zu reißen wissen. Wirf einen Blick auf die natürlichen und
künstlichen Produkte aller Weltteile, betrachte, wie sie wechselsweise
zur Notdurft geworden sind! Welch eine angenehme, geistreiche
Sorgfalt ist es, alles, was in dem Augenblicke am meisten gesucht wird
und doch bald fehlt, bald schwer zu haben ist, zu kennen, jedem, was
er verlangt, leicht und schnell zu verschaffen, sich vorsichtig in
Vorrat zu setzen und den Vorteil jedes Augenblickes dieser großen
Zirkulation zu genießen! Dies ist, dünkt mich, was jedem, der Kopf
hat, eine große Freude machen wird."
Wilhelm schien nicht abgeneigt, und Werner fuhr fort: "Besuche nur
erst ein paar große Handelsstädte, ein paar Häfen, und du wirst gewiß
mit fortgerissen werden. Wenn du siehst, wie viele Menschen
beschäftigt sind; wenn du siehst, wo so manches herkommt, wo es
hingeht, so wirst du es gewiß auch mit Vergnügen durch deine Hände
gehen sehen. Die geringste Ware siehst du im Zusammenhange mit dem
ganzen Handel, und eben darum hältst du nichts für gering, weil alles
die Zirkulation vermehrt, von welcher dein Leben seine Nahrung zieht."
Werner, der seinen richtigen Verstand in dem Umgange mit Wilhelm
ausbildete, hatte sich gewöhnt, auch an sein Gewerbe, an seine
Geschäfte mit Erhebung der Seele zu denken, und glaubte immer, daß er
es mit mehrerem Rechte tue als sein sonst verständiger und geschätzter
Freund, der, wie es ihm schien, auf das Unreellste von der Welt einen
so großen Wert und das Gewicht seiner ganzen Seele legte.
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