Konnte man sich auch in
einer ängstlichern Lage fühlen? Ihr Geliebter entfernte sich, ein
unbequemer Liebhaber drohte zu kommen, und das größte Unheil stand
bevor, wenn beide, wie es leicht möglich war, einmal zusammentreffen
sollten.
"Beruhige dich, Liebchen", rief die Alte, "verweine mir deine schönen
Augen nicht! Ist es denn ein so großes Unglück, zwei Liebhaber zu
besitzen? Und wenn du auch deine Zärtlichkeit nur dem einen schenken
kannst, so sei wenigstens dankbar gegen den andern, der, nach der Art,
wie er für dich sorgt, gewiß dein Freund genannt zu werden verdient."
"Es ahnte meinem Geliebten", versetzte Mariane dagegen mit Tränen,
"daß uns eine Trennung bevorstehe; ein Traum hat ihm entdeckt, was wir
ihm so sorgfältig zu verbergen suchen. Er schlief so ruhig an meiner
Seite. Auf einmal höre ich ihn ängstliche, unvernehmliche Töne
stammeln. Mir wird bange, und ich wecke ihn auf. Ach! mit welcher
Liebe, mit welcher Zärtlichkeit, mit welchem Feuer umarmt' er mich!
"O Mariane!" rief er aus, "welchem schrecklichen Zustande hast du mich
entrissen! Wie soll ich dir danken, daß du mich aus dieser Hölle
befreit hast? Mir träumte", fuhr er fort, "ich befände mich, entfernt
von dir, in einer unbekannten Gegend; aber dein Bild schwebte mir vor;
ich sah dich auf einem schönen Hügel, die Sonne beschien den ganzen
Platz; wie reizend kamst du mir vor! Aber es währte nicht lange, so
sah ich dein Bild hinuntergleiten, immer hinuntergleiten; ich streckte
meine Arme nach dir aus, sie reichten nicht durch die Ferne. Immer
sank dein Bild und näherte sich einem großen See, der am Fuße des
Hügels weit ausgebreitet lag, eher ein Sumpf als ein See. Auf einmal
gab dir ein Mann die Hand; er schien dich hinaufführen zu wollen, aber
leitete dich seitwärts und schien dich nach sich zu ziehen. Ich rief,
da ich dich nicht erreichen konnte, ich hoffte dich zu warnen. Wollte
ich gehen, so schien der Boden mich festzuhalten; konnt ich gehen, so
hinderte mich das Wasser, und sogar mein Schreien erstickte in der
beklemmten Brust."—So erzählte der Arme, indem er sich von seinem
Schrecken an meinem Busen erholte und sich glücklich pries, einen
fürchterlichen Traum durch die seligste Wirklichkeit verdrängt zu
sehen."
Die Alte suchte soviel möglich durch ihre Prose die Poesie ihrer
Freundin ins Gebiet des gemeinen Lebens herunterzulocken und bediente
sich dabei der guten Art, welche Vogelstellern zu gelingen pflegt,
indem sie durch ein Pfeifchen die Töne derjenigen nachzuahmen suchen,
welche sie bald und häufig in ihrem Garne zu sehen wünschen. Sie
lobte Wilhelmen, rühmte seine Gestalt, seine Augen, seine Liebe. Das
arme Mädchen hörte ihr gerne zu, stand auf, ließ sich ankleiden und
schien ruhiger. "Mein Kind, mein Liebchen", fuhr die Alte
schmeichelnd fort, "ich will dich nicht betrüben, nicht beleidigen,
ich denke dir nicht dein Glück zu rauben. Darfst du meine Absicht
verkennen, und hast du vergessen, daß ich jederzeit mehr für dich als
für mich gesorgt habe? Sag mir nur, was du willst; wir wollen schon
sehen, wie wir es ausführen."
"Was kann ich wollen?" versetzte Mariane; "ich bin elend, auf mein
ganzes Leben elend; ich liebe ihn, der mich liebt, sehe, daß ich mich
von ihm trennen muß, und weiß nicht, wie ich es überleben kann.
Norberg kommt, dem wir unsere ganze Existenz schuldig sind, den wir
nicht entbehren können. Wilhelm ist sehr eingeschränkt, er kann
nichts für mich tun."
"Ja, er ist unglücklicherweise von jenen Liebhabern, die nichts als
ihr Herz bringen, und eben diese haben die meisten Prätensionen."
"Spotte nicht! Der Unglückliche denkt sein Haus zu verlassen, auf das
Theater zu gehen, mir seine Hand anzubieten."
"Leere Hände haben wir schon viere."
"Ich habe keine Wahl", fuhr Mariane fort, "entscheide du! Stoße mich
da oder dorthin, nur wisse noch eins: wahrscheinlich trag ich ein Pfand
im Busen, das uns noch mehr aneinanderfesseln sollte; das bedenke und
entscheide: wen soll ich lassen? Wem soll ich folgen?"
Nach einigem Stillschweigen rief die Alte: "Daß doch die Jugend immer
zwischen den Extremen schwankt! Ich finde nichts natürlicher, als
alles zu verbinden, was uns Vergnügen und Vorteil bringt. Liebst du
den einen, so mag der andere bezahlen; es kommt nur darauf an, daß wir
klug genug sind, sie beide auseinanderzuhalten."
"Mache, was du willst, ich kann nichts denken; aber folgen will ich."
"Wir haben den Vorteil, daß wir den Eigensinn des Direktors, der auf
die Sitten seiner Truppe stolz ist, vorschützen können. Beide
Liebhaber sind schon gewohnt, heimlich und vorsichtig zu Werke zu
gehen. Für Stunde und Gelegenheit will ich sorgen; nur mußt du
hernach die Rolle spielen, die ich dir vorschreibe. Wer weiß, welcher
Umstand uns hilft. Käme Norberg nur jetzt, da Wilhelm entfernt ist!
Wer wehrt dir, in den Armen des einen an den andern zu denken? Ich
wünsche dir zu einem Sohne Glück; er soll einen reichen Vater haben."
Mariane war durch diese Vorstellungen nur für kurze Zeit gebessert.
Sie konnte ihren Zustand nicht in Harmonie mit ihrer Empfindung, ihrer
Überzeugung bringen; sie wünschte diese schmerzlichen Verhältnisse zu
vergessen, und tausend kleine Umstände mußten sie jeden Augenblick
daran erinnern.
I. Buch, 13. Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Wilhelm hatte indessen die kleine Reise vollendet und überreichte, da
er seinen Handelsfreund nicht zu Hause fand, das Empfehlungsschreiben
der Gattin des Abwesenden. Aber auch diese gab ihm auf seine Fragen
wenig Bescheid; sie war in einer heftigen Gemütsbewegung und das ganze
Haus in großer Verwirrung.
Es währte jedoch nicht lange, so vertraute sie ihm (und es war auch
nicht zu verheimlichen), daß ihre Stieftochter mit einem Schauspieler
davongegangen sei, mit einem Menschen, der sich von einer kleinen
Gesellschaft vor kurzem losgemacht, sich im Orte aufgehalten und im
Französischen Unterricht gegeben habe. Der Vater, außer sich vor
Schmerz und Verdruß, sei ins Amt gelaufen, um die Flüchtigen verfolgen
zu lassen. Sie schalt ihre Tochter heftig, schmähte den Liebhaber, so
daß an beiden nichts Lobenswürdiges übrigblieb, beklagte mit vielen
Worten die Schande, die dadurch auf die Familie gekommen, und setzte
Wilhelmen in nicht geringe Verlegenheit, der sich und sein heimliches
Vorhaben durch diese Sibylle gleichsam mit prophetischem Geiste voraus
getadelt und gestraft fühlte. Noch stärkern und innigern Anteil mußte
er aber an den Schmerzen des Vaters nehmen, der aus dem Amte zurückkam,
mit stiller Trauer und halben Worten seine Expedition der Frau
erzählte und, indem er nach eingesehenem Briefe das Pferd Wilhelmen
vorführen ließ, seine Zerstreuung und Verwirrung nicht verbergen
konnte.
Wilhelm gedachte sogleich das Pferd zu besteigen und sich aus einem
Hause zu entfernen, in welchem ihm unter den gegebenen Umständen
unmöglich wohl werden konnte; allein der gute Mann wollte den Sohn
eines Hauses, dem er so viel schuldig war, nicht unbewirtet und ohne
ihn eine Nacht unter seinem Dache behalten zu haben, entlassen.
Unser Freund hatte ein trauriges Abendessen eingenommen, eine unruhige
Nacht ausgestanden und eilte frühmorgens, so bald als möglich sich von
Leuten zu entfernen, die, ohne es zu wissen, ihn mit ihren Erzählungen
und Äußerungen auf das empfindlichste gequält hatten.
Er ritt langsam und nachdenkend die Straße hin, als er auf einmal eine
Anzahl bewaffneter Leute durchs Feld kommen sah, die er an ihren
weiten und langen Röcken, großen Aufschlägen, unförmlichen Hüten und
plumpen Gewehren, an ihrem treuherzigen Gange und dem bequemen Tragen
ihres Körpers sogleich für ein Kommando Landmiliz erkannte. Unter
einer alten Eiche hielten sie stille, setzten ihre Flinten nieder und
lagerten sich bequem auf dem Rasen, um eine Pfeife zu rauchen.
Wilhelm verweilte bei ihnen und ließ sich mit einem jungen Menschen,
der zu Pferde herbeikam, in ein Gespräch ein. Er mußte die Geschichte
der beiden Entflohenen, die ihm nur zu sehr bekannt war, leider noch
einmal, und zwar mit Bemerkungen, die weder dem jungen Paare noch den
Eltern sonderlich günstig waren, vernehmen. Zugleich erfuhr er, daß
man hierher gekommen sei, die jungen Leute wirklich in Empfang zu
nehmen, die in dem benachbarten Städtchen eingeholt und angehalten
worden waren. Nach einiger Zeit sah man von ferne einen Wagen
herbeikommen, der von einer Bürgerwache mehr lächerlich als
fürchterlich umgeben war. Ein unförmlicher Stadtschreiber ritt voraus
und komplimentierte mit dem gegenseitigem Aktuarius (denn das war der
junge Mann, mit dem Wilhelm gesprochen hatte) an der Grenze mit großer
Gewissenhaftigkeit und wunderlichen Gebärden, wie es etwa Geist und
Zauberer, der eine inner-, der andere außerhalb des Kreises, bei
gefährlichen nächtlichen Operationen tun mögen.
Die Aufmerksamkeit der Zuschauer war indes auf den Bauerwagen
gerichtet, und man betrachtete die armen Verirrten nicht ohne
Mitleiden, die auf ein paar Bündeln Stroh beieinander saßen, sich
zärtlich anblickten und die Umstehenden kaum zu bemerken schienen.
Zufälligerweise hatte man sich genötigt gesehen, sie von dem letzten
Dorfe auf eine so unschickliche Art fortzubringen, indem die alte
Kutsche, in welcher man die Schöne transportierte, zerbrochen war.
Sie erbat sich bei dieser Gelegenheit die Gesellschaft ihres Freundes,
den man, in der Überzeugung, er sei auf einem kapitalen Verbrechen
betroffen, bis dahin mit Ketten beschwert nebenhergehen lassen.
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