Diese
Ketten trugen denn freilich nicht wenig bei, den Anblick der
zärtlichen Gruppe interessanter zu machen, besonders weil der junge
Mann sie mit vielem Anstand bewegte, indem er wiederholt seiner
Geliebten die Hände küßte.
"Wir sind sehr unglücklich!" rief sie den Umstehenden zu; "aber nicht
so schuldig, wie wir scheinen. So belohnen grausame Menschen treue
Liebe, und Eltern, die das Glück ihrer Kinder gänzlich vernachlässigen,
reißen sie mit Ungestüm aus den Armen der Freude, die sich ihrer nach
langen, trüben Tagen bemächtigte!"
Indes die Umstehenden auf verschiedene Weise ihre Teilnahme zu
erkennen gaben, hatten die Gerichte ihre Zeremonien absolviert; der
Wagen ging weiter, und Wilhelm, der an dem Schicksal der Verliebten
großen Teil nahm, eilte auf dem Fußpfade voraus, um mit dem Amtmanne,
noch ehe der Zug ankäme, Bekanntschaft zu machen. Er erreichte aber
kaum das Amthaus, wo alles in Bewegung und zum Empfang der Flüchtlinge
bereit war, als ihn der Aktuarius einholte und durch eine umständliche
Erzählung, wie alles gegangen, besonders aber durch ein weitläufiges
Lob seines Pferdes, das er erst gestern vom Juden getauscht, jedes
andere Gespräch verhinderte.
Schon hatte man das unglückliche Paar außen am Garten, der durch eine
kleine Pforte mit dem Amthause zusammenhing, abgesetzt und sie in der
Stille hineingeführt. Der Aktuarius nahm über diese schonende
Behandlung von Wilhelmen ein aufrichtiges Lob an, ob er gleich
eigentlich dadurch nur das vor dem Amthause versammelte Volk necken
und ihm das angenehme Schauspiel einer gedemütigten Mitbürgerin
entziehen wollte.
Der Amtmann, der von solchen außerordentlichen Fällen kein
sonderlicher Liebhaber war, weil er meistenteils dabei einen und den
andern Fehler machte und für den besten Willen gewöhnlich von
fürstlicher Regierung mit einem derben Verweise belohnt wurde, ging
mit schweren Schritten nach der Amtsstube, wohin ihm der Aktuarius,
Wilhelm und einige angesehene Bürger folgten.
Zuerst ward die Schöne vorgeführt, die, ohne Frechheit, gelassen und
mit Bewußtsein ihrer selbst hereintrat. Die Art, wie sie gekleidet
war und sich überhaupt betrug, zeigte, daß sie ein Mädchen sei, die
etwas auf sich halte. Sie fing auch, ohne gefragt zu werden, über
ihren Zustand nicht unschicklich zu reden an.
Der Aktuarius gebot ihr zu schweigen und hielt seine Feder über dem
gebrochenen Blatte. Der Amtmann setzte sich in Fassung, sah ihn an,
räusperte sich und fragte das arme Kind, wie ihr Name heiße und wie
alt sie sei.
"Ich bitte Sie, mein Herr", versetzte sie, "es muß mir gar wunderbar
vorkommen, daß Sie mich um meinen Namen und mein Alter fragen, da Sie
sehr gut wissen, wie ich heiße und daß ich so alt wie Ihr ältester
Sohn bin. Was Sie von mir wissen wollen und was Sie wissen müssen,
will ich gern ohne Umschweife sagen.
Seit meines Vaters zweiter Heirat werde ich zu Hause nicht zum besten
gehalten. Ich hätte einige hübsche Partien tun können, wenn nicht
meine Stiefmutter aus Furcht vor der Ausstattung sie zu vereiteln
gewußt hätte. Nun habe ich den jungen Melina kennenlernen, ich habe
ihn lieben müssen, und da wir die Hindernisse voraussahen, die unserer
Verbindung im Wege stunden, entschlossen wir uns, miteinander in der
weiten Welt ein Glück zu suchen, das uns zu Hause nicht gewährt schien.
Ich habe nichts mitgenommen, als was mein eigen war; wir sind nicht
als Diebe und Räuber entflohen, und mein Geliebter verdient nicht, daß
er mit Ketten und Banden belegt herumgeschleppt werde. Der Fürst ist
gerecht, er wird diese Härte nicht billigen. Wenn wir strafbar sind,
so sind wir es nicht auf diese Weise."
Der alte Amtmann kam hierüber doppelt und dreifach in Verlegenheit.
Die gnädigsten Ausputzer summten ihm schon um den Kopf, und die
geläufige Rede des Mädchens hatte ihm den Entwurf des Protokolls
gänzlich zerrüttet. Das Übel wurde noch größer, als sie bei
wiederholten ordentlichen Fragen sich nicht weiter einlassen wollte,
sondern sich auf das, was sie eben gesagt, standhaft berief.
"Ich bin keine Verbrecherin", sagte sie. "Man hat mich auf
Strohbündeln zur Schande hierhergeführt; es ist eine höhere
Gerechtigkeit, die uns wieder zu Ehren bringen soll."
Der Aktuarius hatte indessen immer ihre Worte nachgeschrieben und
flüsterte dem Amtmanne zu: er solle nur weitergehen; ein förmliches
Protokoll würde sich nachher schon verfassen lassen.
Der Alte nahm wieder Mut und fing nun an, nach den süßen Geheimnissen
der Liebe mit dürren Worten und in hergebrachten, trockenen Formeln
sich zu erkundigen.
Wilhelmen stieg die Röte ins Gesicht, und die Wangen der artigen
Verbrecherin belebten sich gleichfalls durch die reizende Farbe der
Schamhaftigkeit. Sie schwieg und stockte, bis die Verlegenheit selbst
zuletzt ihren Mut zu erhöhen schien.
"Seien Sie versichert", rief sie aus, "daß ich stark genug seien würde,
die Wahrheit zu bekennen, wenn ich auch gegen mich selbst sprechen
müßte; sollte ich nun zaudern und stocken, da sie mir Ehre macht? Ja,
ich habe ihn von dem Augenblicke an, da ich seiner Neigung und seiner
Treue gewiß war, als meinen Ehemann angesehen; ich habe ihm alles
gerne gegönnt, was die Liebe fordert und was ein überzeugtes Herz
nicht versagen kann. Machen Sie nun mit mir, was Sie wollen. Wenn
ich einen Augenblick zu gestehen zauderte, so war die Furcht, daß mein
Bekenntnis für meinen Geliebten schlimme Folgen haben könnte, allein
daran Ursache."
Wilhelm faßte, als er ihr Geständnis hörte, einen hohen Begriff von
den Gesinnungen des Mädchens, indes sie die Gerichtspersonen für eine
freche Dirne erkannten und die gegenwärtigen Bürger Gott dankten, daß
dergleichen Fälle in ihren Familien entweder nicht vorgekommen oder
nicht bekannt geworden waren.
Wilhelm versetzte seine Mariane in diesem Augenblicke vor den
Richterstuhl, legte ihr noch schönere Worte in den Mund, ließ ihre
Aufrichtigkeit noch herzlicher und ihr Bekenntnis noch edler werden.
Die heftigste Leidenschaft, beiden Liebenden zu helfen, bemächtigte
sich seiner. Er verbarg sie nicht und bat den zaudernden Amtmann
heimlich, er möchte doch der Sache ein Ende machen, es sei ja alles so
klar als möglich und bedürfe keiner weitern Untersuchung.
Dieses half so viel, daß man das Mädchen abtreten, dafür aber den
jungen Menschen, nachdem man ihm vor der Türe die Fesseln abgenommen
hatte, hereinkommen ließ. Dieser schien über sein Schicksal mehr
nachdenkend. Seine Antworten waren gesetzter, und wenn er von einer
Seite weniger heroische Freimütigkeit zeigte, so empfahl er sich
hingegen durch Bestimmtheit und Ordnung seiner Aussage.
Da auch dieses Verhör geendiget war, welches mit dem vorigen in allem
übereinstimmte, nur daß er, um das Mädchen zu schonen, hartnäckig
leugnete, was sie selbst schon bekannt hatte, ließ man auch sie
endlich wieder vortreten, und es entstand zwischen beiden eine Szene,
welche ihnen das Herz unsers Freundes gänzlich zu eigen machte.
Was nur in Romanen und Komödien vorzugehen pflegt, sah er hier in
einer unangenehmen Gerichtsstube vor seinen Augen: den Streit
wechselseitiger Großmut, die Stärke der Liebe im Unglück.
"Ist es denn also wahr", sagte er bei sich selbst, "daß die
schüchterne Zärtlichkeit, die vor dem Auge der Sonne und der Menschen
sich verbirgt und nur in abgesonderter Einsamkeit, in tiefem
Geheimnisse zu genießen wagt, wenn sie durch einen feindseligen Zufall
hervorgeschleppt wird, sich alsdann mutiger, stärker, tapferer zeigt
als andere, brausende und großtuende Leidenschaften?"
Zu seinem Troste schloß sich die ganze Handlung noch ziemlich bald.
Sie wurden beide in leidliche Verwahrung genommen, und wenn es möglich
gewesen wäre, so hätte er noch diesen Abend das Frauenzimmer zu ihren
Eltern hinübergebracht. Denn er setzte sich fest vor, hier ein
Mittelsmann zu werden und die glückliche und anständige Verbindung
beider Liebenden zu befördern.
Er erbat sich von dem Amtmanne die Erlaubnis, mit Melina allein zu
reden, welche ihm denn auch ohne Schwierigkeit verstattet wurde.
I. Buch, 14. Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Das Gespräch der beiden neuen Bekannten wurde gar bald vertraut und
lebhaft. Denn als Wilhelm dem niedergeschlagnen Jüngling sein
Verhältnis zu den Eltern des Frauenzimmers entdeckte, sich zum Mittler
anbot und selbst die besten Hoffnungen zeigte, erheiterte sich das
traurige und sorgenvolle Gemüt des Gefangnen, er fühlte sich schon
wieder befreit, mit seinen Schwiegereltern versöhnt, und es war nun
von künftigem Erwerb und Unterkommen die Rede.
"Darüber werden Sie doch nicht in Verlegenheit sein", versetzte
Wilhelm; "denn Sie scheinen mir beiderseits von der Natur bestimmt, in
dem Stande, den Sie gewählt haben, Ihr Glück zu machen. Eine
angenehme Gestalt, eine wohlklingende Stimme, ein gefühlvolles Herz!
Können Schauspieler besser ausgestattet sein? Kann ich Ihnen mit
einigen Empfehlungen dienen, so wird es mir viel Freude machen."
"Ich danke Ihnen von Herzen", versetzte der andere; "aber ich werde
wohl schwerlich davon Gebrauch machen können, denn ich denke, wo
möglich nicht auf das Theater zurückzukehren."
"Daran tun Sie sehr übel", sagte Wilhelm nach einer Pause, in welcher
er sich von seinem Erstaunen erholt hatte; denn er dachte nicht anders,
als daß der Schauspieler, sobald er mit seiner jungen Gattin befreit
worden, das Theater aufsuchen werde. Es schien ihm ebenso natürlich
und notwendig, als daß der Frosch das Wasser sucht. Nicht einen
Augenblick hatte er daran gezweifelt und mußte nun zu seinem Erstaunen
das Gegenteil erfahren.
"Ja", versetzte der andere, "ich habe mir vorgenommen, nicht wieder
auf das Theater zurückzukehren, vielmehr eine bürgerliche Bedienung,
sie sei auch, welche sie wolle, anzunehmen, wenn ich nur eine erhalten
kann."
"Das ist ein sonderbarer Entschluß, den ich nicht billigen kann; denn
ohne besondere Ursache ist es niemals ratsam, die Lebensart, die man
ergriffen hat, zu verändern, und überdies wüßte ich keinen Stand, der
so viel Annehmlichkeiten, so viel reizende Aussichten darböte, als den
eines Schauspielers."
"Man sieht, daß Sie keiner gewesen sind", versetzte jener.
Darauf sagte Wilhelm: "Mein Herr, wie selten ist der Mensch mit dem
Zustande zufrieden, in dem er sich befindet! Er wünscht sich immer
den seines Nächsten, aus welchem sich dieser gleichfalls heraussehnt."
"Indes bleibt doch ein Unterschied", versetzte Melina, "zwischen dem
Schlimmen und dem Schlimmern; Erfahrung, nicht Ungeduld macht mich so
handeln. Ist wohl irgend ein Stückchen Brot kümmerlicher, unsicherer
und mühseliger in der Welt? Beinahe wäre es ebensogut, vor den Türen
zu betteln. Was hat man von dem Neide seiner Mitgenossen und der
Parteilichkeit des Direktors, von der veränderlichen Laune des
Publikums auszustehen! Wahrhaftig, man muß ein Fell haben wie ein Bär,
der in Gesellschaft von Affen und Hunden an der Kette herumgeführt
und geprügelt wird, um bei dem Tone eines Dudelsacks vor Kindern und
Pöbel zu tanzen."
Wilhelm dachte allerlei bei sich selbst, was er jedoch dem guten
Menschen nicht ins Gesicht sagen wollte. Er ging also nur von ferne
mit dem Gespräch um ihn herum.
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