Dabei hatte ich zu meinem größten Erstaunen den
Lieutenant im Heiligtume sehr geschäftig erblickt. Nunmehr konnte
mich der Hanswurst, sosehr er mit seinen Absätzen klapperte, nicht
unterhalten. Ich verlor mich in tiefes Nachdenken und war nach dieser
Entdeckung ruhiger und unruhiger als vorher. Nachdem ich etwas
erfahren hatte, kam es mir erst vor, als ob ich gar nichts wisse, und
ich hatte recht: denn es fehlte mir der Zusammenhang, und darauf kommt
doch eigentlich alles an."
I. Buch, 5. Kapitel
Fünftes Kapitel
"Die Kinder haben", fuhr Wilhelm fort, "in wohleingerichteten und
geordneten Häusern eine Empfindung, wie ungefähr Ratten und Mäuse
haben mögen: sie sind aufmerksam auf alle Ritzen und Löcher, wo sie zu
einem verbotenen Naschwerk gelangen können; sie genießen es mit einer
solchen verstohlnen, wollüstigen Furcht, die einen großen Teil des
kindischen Glücks ausmacht.
Ich war vor allen meinen Geschwistern aufmerksam, wenn irgend ein
Schlüssel steckenblieb. Je größer die Ehrfurcht war, die ich für die
verschlossenen Türen in meinem Herzen herumtrug, an denen ich wochen-
und monatelang vorbeigehen mußte und in die ich nur manchmal, wenn die
Mutter das Heiligtum öffnete, um etwas herauszuholen, einen
verstohlnen Blick tat, desto schneller war ich, einen Augenblick zu
benutzen, den mich die Nachlässigkeit der Wirtschafterinnen manchmal
treffen ließ.
Unter allen Türen war, wie man leicht erachten kann, die Türe der
Speisekammer diejenige, auf die meine Sinne am schärfsten gerichtet
waren. Wenig ahnungsvolle Freuden des Lebens glichen der Empfindung,
wenn mich meine Mutter manchmal hineinrief, um ihr etwas heraustragen
zu helfen, und ich dann einige gedörrte Pflaumen entweder ihrer Güte
oder meiner List zu danken hatte. Die aufgehäuften Schätze
übereinander umfingen meine Einbildungskraft mit ihrer Fülle, und
selbst der wunderliche Geruch, den so mancherlei Spezereien
durcheinander aushauchten, hatte so eine leckere Wirkung auf mich, daß
ich niemals versäumte, sooft ich in der Nähe war, mich wenigstens an
der eröffneten Atmosphäre zu weiden. Dieser merkwürdige Schlüssel
blieb eines Sonntagmorgens, da die Mutter von dem Geläute übereilt
ward und das ganze Haus in einer tiefen Sabbatstille lag, stecken.
Kaum hatte ich es bemerkt, als ich etlichemal sachte an der Wand hin-
und herging, mich endlich still und fein andrängte, die Türe öffnete
und mich mit einem Schritt in der Nähe so vieler langgewünschter
Glückseligkeit fühlte. Ich besah Kästen, Säcke, Schachteln, Büchsen,
Gläser mit einem schnellen, zweifelnden Blicke, was ich wählen und
nehmen sollte, griff endlich nach den vielgeliebten gewelkten Pflaumen,
versah mich mit einigen getrockneten Äpfeln und nahm genügsam noch
eine eingemachte Pomeranzenschale dazu: mit welcher Beute ich meinen
Weg wieder rückwärtsglitschen wollte, als mir ein paar nebeneinander
stehende Kasten in die Augen fielen, aus deren einem Drähte, oben mit
Häkchen versehen, durch den übel verschlossenen Schieber heraushingen.
Ahnungsvoll fiel ich darüber her; und mit welcher überirdischen
Empfindung entdeckte ich, daß darin meine Helden- und Freudenwelt
aufeinandergepackt sei! Ich wollte die obersten aufheben, betrachten,
die untersten hervorziehen; allein gar bald verwirrte ich die leichten
Drähte, kam darüber in Unruhe und Bangigkeit, besonders da die Köchin
in der benachbarten Küche einige Bewegungen machte, daß ich alles, so
gut ich konnte, zusammendrückte, den Kasten zuschob, nur ein
geschriebenes Büchelchen, worin die Komödie von David und Goliath
aufgezeichnet war, das obenauf gelegen hatte, zu mir steckte und mich
mit dieser Beute leise die Treppe hinauf in eine Dachkammer rettete.
Von der Zeit an wandte ich alle verstohlenen einsamen Stunden darauf,
mein Schauspiel wiederholt zu lesen, es auswendig zu lernen und mir in
Gedanken vorzustellen, wie herrlich es sein müßte, wenn ich auch die
Gestalten dazu mit meinen Fingern beleben könnte. Ich ward darüber in
meinen Gedanken selbst zum David und Goliath. In allen Winkeln des
Bodens, der Ställe, des Gartens, unter allerlei Umständen studierte
ich das Stück ganz in mich hinein, ergriff alle Rollen und lernte sie
auswendig, nur daß ich mich meist an den Platz der Haupthelden zu
setzen pflegte und die übrigen wie Trabanten nur im Gedächtnisse
mitlaufen ließ. So lagen mir die großmütigen Reden Davids, mit denen
er den übermütigen Riesen Goliath herausforderte, Tag und Nacht im
Sinne; ich murmelte sie oft vor mich hin, niemand gab acht darauf als
der Vater, der manchmal einen solchen Ausruf bemerkte und bei sich
selbst das gute Gedächtnis seines Knaben pries, der von so wenigem
Zuhören so mancherlei habe behalten können.
Hierdurch ward ich immer verwegener und rezitierte eines Abends das
Stück zum größten Teile vor meiner Mutter, indem ich mir einige
Wachsklümpchen zu Schauspielern bereitete. Sie merkte auf, drang in
mich, und ich gestand.
Glücklicherweise fiel diese Entdeckung in die Zeit, da der Lieutenant
selbst den Wunsch geäußert hatte, mich in diese Geheimnisse einweihen
zu dürfen. Meine Mutter gab ihm sogleich Nachricht von dem
unerwarteten Talente ihres Sohnes, und er wußte nun einzuleiten, daß
man ihm ein Paar Zimmer im obersten Stocke, die gewöhnlich leer
standen, überließ, in deren einem wieder die Zuschauer sitzen, in dem
andern die Schauspieler sein, und das Proszenium abermals die Öffnung
der Türe ausfüllen sollte. Der Vater hatte seinem Freunde das alles
zu veranstalten erlaubt, er selbst schien nur durch die Finger zu
sehen, nach dem Grundsatze, man müsse die Kinder nicht merken lassen,
wie lieb man sie habe, sie griffen immer zu weit um sich; er meinte,
man müsse bei ihren Freuden ernst scheinen und sie ihnen manchmal
verderben, damit ihre Zufriedenheit sie nicht übermäßig und übermütig
mache."
I. Buch, 6. Kapitel
Sechstes Kapitel
"Der Lieutenant schlug nunmehr das Theater auf und besorgte das Übrige.
Ich merkte wohl, daß er die Woche mehrmals zu ungewöhnlicher Zeit
ins Haus kam, und vermutete die Absicht. Meine Begierde wuchs
unglaublich, da ich wohl fühlte, daß ich vor Sonnabends keinen Teil an
dem, was zubereitet wurde, nehmen durfte. Endlich erschien der
gewünschte Tag. Abends um fünf Uhr kam mein Führer und nahm mich mit
hinauf. Zitternd vor Freude trat ich hinein und erblickte auf beiden
Seiten des Gestelles die herabhängenden Puppen in der Ordnung, wie sie
auftreten sollten; ich betrachtete sie sorgfältig, stieg auf den Tritt,
der mich über das Theater erhub, so daß ich nun über der kleinen Welt
schwebte. Ich sah nicht ohne Ehrfurcht zwischen die Brettchen
hinunter, weil die Erinnerung, welche herrliche Wirkung das Ganze von
außen tue, und das Gefühl, in welche Geheimnisse ich eingeweiht sei,
mich umfaßten. Wir machten einen Versuch, und es ging gut.
Den andern Tag, da eine Gesellschaft Kinder geladen war, hielten wir
uns trefflich, außer daß ich in dem Feuer der Aktion meinen Jonathan
fallen ließ und genötigt war, mit der Hand hinunterzugreifen und ihn
zu holen: ein Zufall, der die Illusion sehr unterbrach, ein großes
Gelächter verursachte und mich unsäglich kränkte. Auch schien dieses
Versehn dem Vater sehr willkommen zu sein, der das große Vergnügen,
sein Söhnchen so fähig zu sehen, wohlbedächtig nicht an den Tag gab,
nach geendigtem Stücke sich gleich an die Fehler hing und sagte, es
wäre recht artig gewesen, wenn nur dies oder das nicht versagt hätte.
Mich kränkte das innig, ich ward traurig für den Abend, hatte aber am
kommenden Morgen allen Verdruß schon wieder verschlafen und war in dem
Gedanken selig, daß ich, außer jenem Unglück, trefflich gespielt habe.
Dazu kam der Beifall der Zuschauer, welche durchaus behaupteten:
obgleich der Lieutenant in Absicht der groben und feinen Stimme sehr
viel getan habe, so peroriere er doch meist zu affektiert und steif;
dagegen spreche der neue Anfänger seinen David und Jonathan
vortrefflich; besonders lobte die Mutter den freimütigen Ausdruck, wie
ich den Goliath herausgefordert und dem Könige den bescheidenen Sieger
vorgestellt habe.
Nun blieb zu meiner größten Freude das Theater aufgeschlagen, und da
der Frühling herbeikam und man ohne Feuer bestehen konnte, lag ich in
meinen Frei- und Spielstunden in der Kammer und ließ die Puppen wacker
durcheinanderspielen. Oft lud ich meine Geschwister und Kameraden
hinauf; wenn sie aber auch nicht kommen wollten, war ich allein oben.
Meine Einbildungskraft brütete über der kleinen Welt, die gar bald
eine andere Gestalt gewann.
Ich hatte kaum das erste Stück, wozu Theater und Schauspieler
geschaffen und gestempelt waren, etlichemal aufgeführt, als es mir
schon keine Freude mehr machte. Dagegen waren mir unter den Büchern
des Großvaters die "Deutsche Schaubühne" und verschiedene
italienisch-deutsche Opern in die Hände gekommen, in die ich mich sehr
vertiefte und jedesmal nur erst vorne die Personen überrechnete und
dann sogleich ohne weiteres zur Aufführung des Stückes schritt. Da
mußte nun König Saul in seinem schwarzen Samtkleide den Chaumigrem,
Cato und Darius spielen; wobei zu bemerken ist, daß die Stücke niemals
ganz, sondern meistenteils nur die fünften Akte, wo es an ein
Totstechen ging, aufgeführt wurden.
Auch war es natürlich, daß mich die Oper mit ihren mannigfaltigen
Veränderungen und Abenteuern mehr als alles anziehen mußte. Ich fand
darin stürmische Meere, Götter, die in Wolken herabkommen, und, was
mich vorzüglich glücklich machte, Blitze und Donner.
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