Er zeigte uns, wie wir kommen und gehen, deklamieren und
gestikulieren sollten; allein er erntete für seine Bemühung meistens
wenig Dank, indem wir die theatralischen Künste schon besser als er zu
verstehen glaubten.
Wir verfielen gar bald auf das Trauerspiel: denn wir hatten oft sagen
hören und glaubten selbst, es sei leichter, eine Tragödie zu schreiben
und vorzustellen, als im Lustspiele vollkommen zu sein. Auch fühlten
wir uns beim ersten tragischen Versuche ganz in unserm Elemente; wir
suchten uns der Höhe des Standes, der Vortrefflichkeit der Charaktere
durch Steifheit und Affektation zu nähern und dünkten uns durchaus
nicht wenig; allein vollkommen glücklich waren wir nur, wenn wir recht
rasen, mit den Füßen stampfen und uns wohl gar vor Wut und
Verzweiflung auf die Erde werfen durften.
Knaben und Mädchen waren in diesen Spielen nicht lange beisammen, als
die Natur sich zu regen und die Gesellschaft sich in verschiedene
kleine Liebesgeschichten zu teilen anfing, da denn meistenteils
Komödie in der Komödie gespielt wurde. Die glücklichen Paare drückten
sich hinter den Theaterwänden die Hände auf das zärtlichste; sie
verschwammen in Glückseligkeit, wenn sie einander, so bebändert und
aufgeschmückt, recht idealisch vorkamen, indes gegenüber die
unglücklichen Nebenbuhler sich vor Neid verzehrten und mit Trotz und
Schadenfreude allerlei Unheil anrichteten.
Diese Spiele, obgleich ohne Verstand unternommen und ohne Anleitung
durchgeführt, waren doch nicht ohne Nutzen für uns. Wir übten unser
Gedächtnis und unsern Körper und erlangten mehr Geschmeidigkeit im
Sprechen und Betragen, als man sonst in so frühen Jahren gewinnen kann.
Für mich aber war jene Zeit besonders Epoche, mein Geist richtete
sich ganz nach dem Theater, und ich fand kein größer Glück, als
Schauspiele zu lesen, zu schreiben und zu spielen.
Der Unterricht meiner Lehrer dauerte fort; man hatte mich dem
Handelsstand gewidmet und zu unserm Nachbar auf das Comptoir getan;
aber eben zu selbiger Zeit entfernte sich mein Geist nur gewaltsamer
von allem, was ich für ein niedriges Geschäft halten mußte. Der Bühne
wollte ich meine ganze Tätigkeit widmen, auf ihr mein Glück und meine
Zufriedenheit finden.
Ich erinnere mich noch eines Gedichtes, das sich unter meinen Papieren
finden muß, in welchem die Muse der tragischen Dichtkunst und eine
andere Frauengestalt, in der ich das Gewerbe personifiziert hatte,
sich um meine werte Person recht wacker zanken. Die Erfindung ist
gemein, und ich erinnere mich nicht, ob die Verse etwas taugen; aber
ihr sollt es sehen, um der Furcht, des Abscheues, der Liebe und der
Leidenschaft willen, die darin herrschen. Wie ängstlich hatte ich die
alte Hausmutter geschildert mit dem Rocken im Gürtel, mit Schlüsseln
an der Seite, Brillen auf der Nase, immer fleißig, immer in Unruhe,
zänkisch und haushältisch, kleinlich und beschwerlich! Wie kümmerlich
beschrieb ich den Zustand dessen, der sich unter ihrer Rute bücken und
sein knechtisches Tagewerk im Schweiße des Angesichtes verdienen
sollte!
Wie anders trat jene dagegen auf! Welche Erscheinung ward sie dem
bekümmerten Herzen! Herrlich gebildet, in ihrem Wesen und Betragen
als eine Tochter der Freiheit anzusehen. Das Gefühl ihrer selbst gab
ihr Würde ohne Stolz; ihre Kleider ziemten ihr, sie umhüllten jedes
Glied, ohne es zu zwängen, und die reichlichen Falten des Stoffes
wiederholten wie ein tausendfaches Echo die reizenden Bewegungen der
Göttlichen. Welch ein Kontrast! Und auf welche Seite sich mein Herz
wandte, kannst du leicht denken. Auch war nichts vergessen, um meine
Muse kenntlich zu machen. Kronen und Dolche, Ketten und Masken, wie
sie mir meine Vorgänger überliefert hatten, waren ihr auch hier
zugeteilt. Der Wettstreit war heftig, die Reden beider Personen
kontrastierten gehörig, da man im vierzehnten Jahre gewöhnlich das
Schwarze und Weiße recht nah aneinander zu malen pflegt. Die Alte
redete, wie es einer Person geziemt, die eine Stecknadel aufhebt, und
jene wie eine, die Königreiche verschenkt. Die warnenden Drohungen
der Alten wurden verschmäht; ich sah die mir versprochenen Reichtümer
schon mit dem Rücken an: enterbt und nackt übergab ich mich der Muse,
die mir ihren goldnen Schleier zuwarf und meine Blöße bedeckte.-Hätte
ich denken können, o meine Geliebte!" rief er aus, indem er Marianen
fest an sich drückte, "daß eine ganz andere, eine lieblichere Gottheit
kommen, mich in meinem Vorsatz stärken, mich auf meinem Wege begleiten
würde; welch eine schönere Wendung würde mein Gedicht genommen haben,
wie interessant würde nicht der Schluß desselben geworden sein! Doch
es ist kein Gedicht, es ist Wahrheit und Leben, was ich in deinen
Armen finde; laß uns das süße Glück mit Bewußtsein genießen!"
Durch den Druck seines Armes, durch die Lebhaftigkeit seiner erhöhten
Stimme war Mariane erwacht und verbarg durch Liebkosungen ihre
Verlegenheit: denn sie hatte auch nicht ein Wort von dem letzten Teile
seiner Erzählung vernommen, und es ist zu wünschen, daß unser Held für
seine Lieblingsgeschichten aufmerksamere Zuhörer künftig finden möge.
I. Buch, 9. Kapitel
Neuntes Kapitel
So brachte Wilhelm seine Nächte im Genusse vertraulicher Liebe, seine
Tage in Erwartung neuer seliger Stunden zu. Schon zu jener Zeit, als
ihn Verlangen und Hoffnung zu Marianen hinzog, fühlte er sich wie neu
belebt, er fühlte, daß er ein anderer Mensch zu werden beginne; nun
war er mit ihr vereinigt, die Befriedigung seiner Wünsche ward eine
reizende Gewohnheit. Sein Herz strebte, den Gegenstand seiner
Leidenschaft zu veredeln, sein Geist, das geliebte Mädchen mit sich
emporzuheben. In der kleinsten Abwesenheit ergriff ihn ihr Andenken.
War sie ihm sonst notwendig gewesen, so war sie ihm jetzt
unentbehrlich, da er mit allen Banden der Menschheit an sie geknüpft
war. Seine reine Seele fühlte, daß sie die Hälfte, mehr als die
Hälfte seiner selbst sei. Er war dankbar und hingegeben ohne Grenzen.
Auch Mariane konnte sich eine Zeitlang täuschen; sie teilte die
Empfindung seines lebhaften Glücks mit ihm. Ach! wenn nur nicht
manchmal die kalte Hand des Vorwurfs ihr über das Herz gefahren wäre!
Selbst an dem Busen Wilhelms war sie nicht sicher davor, selbst unter
den Flügeln seiner Liebe. Und wenn sie nun gar wieder allein war und
aus den Wolken, in denen seine Leidenschaft sie emportrug, in das
Bewußtsein ihres Zustandes herabsank, dann war sie zu bedauern. Denn
Leichtsinn kam ihr zu Hülfe, solange sie in niedriger Verworrenheit
lebte, sich über ihre Verhältnisse betrog oder vielmehr sie nicht
kannte; da erschienen ihr die Vorfälle, denen sie ausgesetzt war, nur
einzeln: Vergnügen und Verdruß lösten sich ab, Demütigung wurde durch
Eitelkeit, und Mangel oft durch augenblicklichen Überfluß vergütet;
sie konnte Not und Gewohnheit sich als Gesetz und Rechtfertigung
anführen, und so lange ließen sich alle unangenehmen Empfindungen von
Stunde zu Stunde, von Tag zu Tage abschütteln. Nun aber hatte das
arme Mädchen sich Augenblicke in eine bessere Welt hinübergerückt
gefühlt, hatte wie von oben herab aus Licht und Freude ins öde,
Verworfene ihres Lebens heruntergesehen, hatte gefühlt, welche elende
Kreatur ein Weib ist, das mit dem Verlangen nicht zugleich Liebe und
Ehrfurcht einflößt, und fand sich äußerlich und innerlich um nichts
gebessert. Sie hatte nichts, was sie aufrichten konnte. Wenn sie in
sich blickte und suchte, war es in ihrem Geiste leer, und ihr Herz
hatte keinen Widerhalt. Je trauriger dieser Zustand war, desto
heftiger schloß sich ihre Neigung an den Geliebten fest; ja die
Leidenschaft wuchs mit jedem Tage, wie die Gefahr, ihn zu verlieren,
mit jedem Tage näherrückte.
Dagegen schwebte Wilhelm glücklich in höheren Regionen, ihm war auch
eine neue Welt aufgegangen, aber reich an herrlichen Aussichten. Kaum
ließ das Übermaß der ersten Freude nach, so stellte sich das hell vor
seine Seele, was ihn bisher dunkel durchwühlt hatte. "Sie ist dein!
Sie hat sich dir hingegeben! Sie, das geliebte, gesuchte, angebetete
Geschöpf, dir auf Treu und Glauben hingegeben; aber sie hat sich
keinem Undankbaren überlassen." Wo er stand und ging, redete er mit
sich selbst; sein Herz floß beständig über, und er sagte sich in einer
Fülle von prächtigen Worten die erhabensten Gesinnungen vor.
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