Sie schlafen nur hier; sie speisen anderswo. Sie gehen früh fort und kommen erst abends wieder, wenn es keine Tafel mehr gibt.«
Er machte dabei ein so eigenartiges Gesicht, daß ich mich erkundigte:
»Warum tun sie das?«
Er zuckte die Achsel und antwortete:
»Unser Clifton-House ist ein Hotel ersten Ranges. Wer diesem Range nicht angehört, der wird wohl hier schlafen, nicht aber auch hier speisen und mit den andern Gästen verkehren können. Er versucht es vielleicht einmal, fühlt sich dabei aber derart schnell erkannt und abgestoßen, daß er den Versuch gewiß nicht wiederholt.«
Das war sehr aufrichtig gesprochen! Wenigstens sechzig Prozent der dortigen Kellner sind Deutsche oder Oesterreicher. Dieser aber war ein kanadischer Engländer; daher dieser ebenso selbständige wie selbstbewußte Ton. Als er mich dabei schon mehr taxierend als forschend betrachtete, so sagte ich ihm, daß ich zu der Klasse gehöre, in der man den Betrag der Trinkgelder teilt. Die eine Hälfte gibt man sofort bei der Ankunft, um zu zeigen, daß man gern zufriedengestellt sein will, und die andere Hälfte entrichtet man dann bei der Abreise, oder man zahlt sie auch nicht, um zu zeigen, ob man zufriedengestellt worden ist oder nicht. Bei diesen Worten drückte ich ihm die erste Hälfte in die Hand. Er betrachtete die Note sehr ungeniert, um zu sehen, wie viel sie betrug; dann aber machte er eine Verbeugung, wie kein Deutscher und kein Oesterreicher sie hochachtungstiefer hätte machen können, und sprach:
»Zu jedem Befehl bereit! Werde das auch der Chambermaid1 anempfehlen!« Sind diese beiden Enters vielleicht unbequem, Mr. Burton? Wir quartieren sie sofort aus!
»Bitte, sie zu lassen; sie genieren uns nicht.«
Er verneigte sich ebenso tief wie vorher und ging dann, vor lauter Respekt und Wohlwollen strahlend, ab. Als sich uns hierauf, damit wir sie kennen lernen sollten, die »Chambermaid« vorstellte, sahen wir ihr an, daß sie von der Teilung des Trinkgeldes bereits unterrichtet war, und ermöglichten ihr einen ebenso wirkungsvollen Abgang wie dem Kellner. Das taten wir natürlich nicht, um mit unserm Gelde zu prahlen, und noch viel weniger erzähle ich es hier aus diesem oder einem ähnlichen Grunde. Ich habe ja bereits gesagt, daß ich keineswegs reich bin, sondern nur so grad mein Auskommen habe. Aber die Wirkungen dieser Art und Weise, den Bediensteten nicht erst dann, wenn es zu spät ist, zu zeigen, daß man Einsicht und Dankbarkeit besitzt, stellten sich sehr bald ein, und aus ihnen mag man erkennen, warum ich so tat.
Wir waren am Nachmittag angekommen und machten gleich noch an diesem Tage die zwei bekannten Fahrten, welche jeder Besucher der Niagarafälle unbedingt gemacht haben muß. Es ist das eine Bahn- und eine Dampfbootfahrt. Das Geleise der Bahn geht hart am kanadischen Ufer des Niagara hinab und dann drüben am Vereinigten-Staaten-Ufer wieder herauf. Tief, tief unten kocht und brodelt der Strom: die Felsen steigen vollständig senkrecht in die Höhe, und die Schienen der Bahn liegen oft höchstens zwei Meter von der Kante des Abgrundes entfernt. An diesem letzteren rast man mit der Schnelligkeit des Fluges dahin, und man hat, da man nur den geöffneten Schlund und das jenseitige Ufer sieht, vom Anfange bis zum Ende dieser Fahrt das Gefühl, als ob man direkt in die Luft hinausfahre, um dann in die Tiefe hinabzuschmettern. Die Bootsfahrt macht man auf der wohlbekannten und beliebten Maid of the Mist2, welche kühn bis in die nächste Nähe der Fälle steuert und am geeigneten Orte diejenigen Touristen landet, welche daheim von sich rühmen wollen, daß sie sogar »hinter dem Wasser« gewesen seien.
Später aßen wir bei den Klängen eines ausgezeichnet spielenden doppelten Streichquartetts das Abendbrot in dem großen, im Parterre des Hotels liegenden Speisesaale und zogen uns dann in unsere Wohnung oder, richtiger gesagt, auf meinen freien Altan zurück, welcher uns den unbeschreiblichen Genuß gewährte, die Fälle von dem geheimnisvollsten Schimmer des Mondes besucht und verklärt zu sehen. Hierbei war es ungefähr elf Uhr geworden, als das Zimmermädchen eiligst herbeigehuscht kam und uns meldete:
»Die Enters sind da.«
»Wo?« fragte das Herzle.
»Noch unten in der Office. Sie pflegen allabendlich, wenn sie kommen, im Buche nachzuschlagen, und dann gehen sie auf ihr Zimmer.«
»Zu welchem Zwecke schlagen sie nach?«
»Um zu sehen, ob ein deutsches Ehepaar hier angekommen ist, ein Mr. May mit seiner Frau. Erst fragten sie. Jetzt aber schlagen sie nach, weil sie fühlen, daß man sie hier für überflüssig hält. Auch ich spreche nicht mit ihnen.«
Sie entfernte sich, und wir verließen die Plattform, um nicht gesehen zu werden. Diese Mitteilung war die erste Frucht des vorausgezahlten Trinkgeldes. Zur Erläuterung ihrer Nützlichkeit für uns muß ich die Tür beschreiben, durch welche meine Stube von der Plattform getrennt wurde. Jeder Besucher des Clifton-House weiß, daß alle diese Türen, welche auf den freien Altan münden, die gleiche Konstruktion besitzen. Sie sind vorhanden, die Wohnungen vollständig abzuschließen, so daß niemand von draußen hereinsehen kann, aber doch grad so viel Luft und so viel Licht hereinzulassen, wie die Bewohner wünschen. Darum sind sie sowohl mit Fensterscheiben wie auch mit Jalousieklappen versehen.
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