Es enthielt folgende Zeilen in englischer Sprache, die ich natürlich verdeutsche; sie waren von einer schweren, ungeübten Hand mit Bleistift geschrieben:
»An Old Shatterhand.
Kommst Du nach dem Mount Winnetou? Ich komme ganz gewiß. Vielleicht sogar auch Avaht-Niah, der Hundertundzwanzigjährige. Siehst Du, daß ich schreiben kann? Und daß ich in der Sprache der Bleichgesichter schreibe?
Wagare-Tey.
Häuptling der Schoschonen.«
Als wir das gelesen hatten, schaute ich das Herzle überrascht an, und sie mich ebenso. Nicht etwa das frappierte uns, daß wir einen Brief aus dem fernen Westen bekamen, und zwar von einem Indianer. Das geschieht sehr oft. Aber daß dieser Brief von dem Häuptling der Schlangenindianer kam, der mir noch nie geschrieben hatte, das verwunderte mich. Sein Name Wagare-Tey bedeutet so viel wie »Gelber Hirsch«. Ich bitte, über ihn in meinem Bande »Weihnacht« nachzulesen. Damals, also vor nun über dreißig Jahren, war er noch jung und ziemlich unerfahren, aber ein guter, ehrlicher Mensch und ein treuer, zuverlässiger Freund meines Winnetou und mir. Sein Vater Avaht-Niah war über achtzig Jahre alt, ein Ehrenmann durch und durch, und hatte den großen Einfluß, den er besaß, stets nur zu unsern Gunsten in Anwendung gebracht. Wegen dieses seines hohen Alters und weil ich nie wieder von ihm hörte, hatte ich ihn dann für tot gehalten. Nun aber ersah ich aus dem Briefe, daß er noch lebte und sich in guter körperlicher und geistiger Verfassung befand. Denn, wäre dieses Letztere nicht der Fall gewesen, so hätte der Schreiber desselben unmöglich sagen können, daß der oberste Kriegsanführer der Schoschonen vielleicht auch mit nach dem Mount Winnetou kommen werde.
Zwar hatte ich nicht die geringste Ahnung davon, wo dieser Berg lag. Ich wußte nur, daß die Apatschen sich mit den ihnen befreundeten anderen Stämmen dahin einigen wollten, irgend einen nach seiner Lage, seinen Eigenschaften und seiner Wichtigkeit ausgezeichneten Berg nach dem Namen ihres geliebtesten Häuptlings zu nennen. Davon, daß dies geschehen sei, hatte ich nichts gehört, und noch viel weniger war mir mitgeteilt worden, auf welchen Berg die Wahl gefallen war. Doch so viel konnte ich mir denken, daß es nicht einer war, der außerhalb des Bereiches, in dem die Apatschen sich bewegen, liegt. Und weil die Schlangenindianer ihre Lager- und Weideplätze viele Tagesritte davon im Norden haben, so war es gewiß ein ganz außerordentlicher Fall, daß ein Mann, der über hundertundzwanzig Jahre zählte, es sich zutraute, diese Reise machen zu können, ohne von der Not, sondern nur von seinem jung gebliebenen Herzen dazu getrieben zu sein.
Und warum wollte er mit seinem Sohne so weit nach Süden kommen? Das wußte ich nicht. Ich fand auch durch kein noch so scharfes und noch so kompliziertes Nachdenken eine einwandfreie Antwort auf diese Frage. Ich konnte nichts tun, als warten, ob sich auch von anderer Seite dergleichen Zuschriften einstellen würden. Den Brief zu beantworten, war unmöglich, weil ich den jetzigen Aufenthaltsort der beiden Häuptlinge nicht kannte. Auf alle Fälle aber war es kein unwichtiger Grund, der sie veranlaßte, das ihnen so fern liegende Gebiet der Apatschen aufzusuchen. Ich nahm an, daß dieser Grund sich nicht auf enge, rein persönliche Verhältnisse bezog, sondern eine allgemeinere Bedeutung hatte, und da meine Adresse da drüben bekannt ist und ich mit vielen, dort lebenden Personen, von denen ich in meinen Büchern erzählt habe und noch erzählen werde, im Briefwechsel stehe, so durfte ich wohl hoffen, bald weiteres zu erfahren.
Und wie gedacht, so geschehen! Kaum zwei Wochen später kam ein zweiter Brief, aber von einer Seite, von welcher ich am allerwenigsten ein Lebenszeichen oder gar eine Zuschrift erwartet hätte. Das Kuvert zeigte genau dieselbe Adresse, und der englisch geschriebene Inhalt lautete, in die deutsche Sprache übersetzt, wie folgt:
»Komm an den Mount Winnetou zum großen, letzten Kampfe! Und gieb mir endlich Deinen Skalp, den Du mir schon zwei Menschenalter lang schuldig bist! Dieses läßt Dir schreiben
To-kei-chun,
der Häuptling der Racurroh-Comantschen.«
Und nur eine Woche später erhielt ich, auch wieder unter derselben Adresse, folgende Zuschrift:
»Hast Du Mut, so komme herüber nach dem Mount Winnetou! Meine einzige Kugel, die ich noch habe, sehnt sich nach Dir!
Tangua,
ältester Häuptling der Kiowa.
Geschrieben von Pida, seinem Sohne, dem jetzigen Häuptling der Kiowa, dessen Seele die Deinige grüßt.«
Diese beide Briefe waren im höchsten Grade interessant, und zwar nicht nur psychologisch. Fast schien es, als ob sie von To-kei-chun und Tangua an dem gleichen Orte und unter dem gleichen Einflusse diktiert worden seien. Beide haßten mich noch genau so unversöhnlich wie ehedem. Ganz eigenartig war es, daß der Sohn des letzteren mich trotz dieses Hasses grüßte, doch fiel es mir nicht schwer, diese Dankbarkeit zu verstehen. Aber wichtiger, viel wichtiger als das Alles war, daß auch die Feinde der Apatschen hinauf nach dem Mount Winnetou wollten. Es wurde da von einem »großen, letzten Kampfe« gesprochen. Das klang außerordentlich gefährlich. Ich begann, besorgt zu werden, ernstlich besorgt! Oder gab es da drüben Jemand, etwa einen alten, früheren Gegner, der sich jetzt, in meinen alten Tagen, den Spaß machen wollte, mich zu foppen und zu einer Einfaltsreise nach Amerika zu bewegen? Aber nach der Hälfte eines Monates erhielt ich folgenden Brief, der in Oklahoma aufgegeben war und für mich ein Dokument bildete, dem ich vollsten Glauben zu schenken hatte:
»Mein lieber, weißer Bruder!
Der große, gute Manitou in meinem Herzen gebietet mir, Dir zu sagen, daß ein Bund der alten Häuptlinge und ein Bund der jungen Häuptlinge nach dem Mount Winnetou berufen ist, um über die Bleichgesichter zu Gericht zu sitzen und über die Zukunft der roten Männer zu entscheiden.
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