Aber viel heißer noch lagen des Alten Augen auf des Knaben Antlitz. Dann richtete er sich auf »Wenn es beliebte, Herr Oberst? Der Wolf ist unten auf dem Hofe, den meine Hunde heut nacht niederlegten!«
Da faßte unser Herr des Knaben Hand und ging mit dem Alten nach dem Hof hinab; ich und der Pastor folgeten. Auf der Treppe aber hielt dieser, der seine klugen Augen fleißig zwischen den Personen hatte hin und wider gehen lassen, mich am Arm zurück und raunte: »Was meinest du, Magister? Ich möcht wohl wissen, wie selbiger, den sie hier den Wildmeister heißen, in seinen jungen Tagen ausgesehen hat!«
Aber vom Hofe aus rief der Herr Oberst durch die offene Hausthür: »Wo bleibt die Geistlichkeit? Erlegter Feind ist ja auch ihr gar liebe Augenweide!«
Da schritten wir eilig hinab und sahen das erlegte Thier auf einem Schlitten liegen, denn es war Schnee gefallen in der Nacht.
Das Raubzeug minderte sich merklich, und immer seltener kam ein Schäfer mit Geschrei zum Hof hinauf gelaufen; und doch hatte der Wildmeister nur einen Mann zur ständigen Hülfe sich erbeten, der hieß Hans Christoph: er war mit ihm von fast demselben Alter und wohnete ehelos im Dorfe unten. Zur Nacht aber war der Wildmeister allzeit allein in seinem Thurmhaus, so nicht ein Sonderbares sollte unternommen werden; denn unterweilen, zumal im Winter, hörete ich auch um solche Zeit von mehr als einer Büchse das Krachen aus dem Walde, und war dann morgens meist ein Wolf zu Hof gebracht.
– – So waren ein paar Jahre hingegangen; der Junker war frisch hinaufgewachsen und wohl vierzehnjährig schon; dabei war er klug und hatte mich fast ausgelernet. Zu dem Wildmeister, der auch bei dem Obersten viel Ansehen hatte, hegte er ein groß Vertrauen. Der nahm ihn mit zur kleinen Jagd, wozu der Knabe seinen eigenen Hund besaß, und unterwies ihn, wie mit diesem und mit Schießgewehren richtig zu hantieren sei; obwohl von jäher Gemüthsart, nahm er strengen Tadel von ihm hin. Als sie einst im Herbste mit ihren Flinten über Feld gingen, frug der Wildmeister einen Knecht, der dorten Dünger über das Land streuete, wohin die Hühner, die sie jagten, wohl geflogen seien. Da hörte er, indeß er mit dem Knechte sprach, den Junker seines Hundes Namen: »Nero! Nero!« laut und zornig und noch immer lauter rufen; denn es war ein Igel, den der Hund nicht lassen wollte. Als aber der Alte seinen Kopf wandte, riß eben der Knabe des Knechtes Furke aus der Erde, um sie dem Hunde nach dem Leib zu stoßen.
Doch gleichwie von Eisenklammern fühlte er seine Hand von einer anderen gepacket. »Erschlag nicht deinen Hund!« rief über ihm der Wildmeister, »du könntest das später einem Menschen thun!«
»Und er sah mich so furchtbar an«, sagte der Junker, da er es mir erzählete, »ich meint, er wolle mich gar selbst erschlagen! Dann aber legte er sanft den Arm um mich und sprach: ›Das ist dein Blut, mein Kind; wir müssen wissen wogegen wir zu kämpfen haben!‹ Und so, mit einem Worte, rief er den Hund, der mit gesenktem Kopfe von dem Igel abließ.«
Der Wildmeister war wohl selbst ein jähzorniger Mann gewesen, aber er hatte gelernt, sich zu besiegen; davon erhielt ich Beweis in eigener Gegenwart. Unser Pastor war in der Stadt zum Diaconate präsentieret, und ich hatte Lust zu seiner Nachfolge hier im Dorfe. So ging ich zum Herrn Obersten, um mein Anliegen vorzubringen, aber ich traf ihn nicht in der besten Laune. Er hatte ein Schreiben in der Hand, mit dem er in seinem Zimmer auf und ab ging; die Tante Adelheid hatte sich bei meinem Eintritt mit einem Kopfaufwerfen durch die Seitenthür davonbegeben.
»Hat Er bei mir zu klagen, Magister?« sprach der Oberst, als ich meine Sache vorgetragen hatte, und da ich das verneinte: »So bleib Er! Er ist noch jung! Machen wir es gleich unserer Herzoginwitwe mit dem sechsjährigen Herzog, gehen wir nach Stockholm! Es wird auch dort für Ihn zu sorgen sein; Er kann doch nicht von meinem Buben lassen!«
Und da ich über solche Rede erstaunet und auch das letztere die Wahrheit war, so hatte ich nicht allsogleich die Antwort.
Da klopfte es; und auf ein heftiges »Herein« des Obersten war der Wildmeister in das Zimmer getreten. Aber jener beachtete ihn nicht. »Es ist hier nimmermehr zu hausen«, sprach er weiter; »die vormundschaftliche Regierung ist der Görtz, der steckt die Hälfte in die eigene Tasche und hat doch nie genug; und dabei kein Landtag und kein Landgericht! Aber hier ist einer« – und er schüttelte das Schreiben in seiner Faust-, »der hat mir Handgeld für Grieshuus geboten! Freilich, die Tante ist in hellem Brand darüber.«
»Herr Oberst«, sagte der Wildmeister, »Sie werden Grieshuus doch nicht verkaufen wollen?« Und da ich ihn ansah, war es wie eine Angst in seinem Antlitz.
Der Oberst war stehengeblieben. »Und weshalb nicht?« frug er scharf.
Und der Wildmeister entgegnete ruhig: »Weil es das Erbe Ihres Sohnes ist.«
»Ja, freilich; doch ich bin der Vormund meines Sohnes.«
»Aber«, sagte der Alte, und in seiner Stimme war ein heimlich Beben, »Sie sind ein Fremder hier; doch Ihres Sohnes Ahnen, Jahrhunderte hinauf, schlafen dort unten in der Kapellengruft.«
»Da hat Er recht, Wildmeister«, entgegnete der andere verdrossen, »und der Großvater ist zum Glücke nicht dazwischen!«
»Herr Oberst!« rief der Alte mit seiner vollen Stimme und stand hoch aufgerichtet vor ihm; er war todtenblaß geworden, und ein Paar herrische Augen fielen so drohend auf den Oberst, als ob er ihn von Haus und Hof verjagen wollte.
Und eine Weile sahen sich die beiden an. »Wer ist Er eigentlich«, sprach der Hausherr, »daß Er also zu mir redet?«
Da schien der Alte seiner Sinne wieder Herr zu werden. »Ich bin um andere Dinge hergekommen«, sprach er nach einer Weile, »und bitte, daß Sie mich hören wollen!« Und auf des Herrn finsteres Nicken: »Hans Christoph ist gestern unten in der Stadt gewesen; der Magistrat hat dort beschlossen, den Hafen mit einem neuen Bollwerk einzufassen: ich dächte, das Eichenholz könnte wohl von hier dazu geliefert werden!« Und er begann dann, seine Pläne zu explizieren. Der Oberst, der erst zornig auf und ab gegangen war, stand endlich still und frug und hörete wieder. Ich aber beurlaubte mich und dachte wiederum der Worte meines Vetters.
Als aber die Lieferung des nöthigen Eichenholzes mit dem Magistrate abgeschlossen war, so ließ der Wildmeister Schneißen durch die Wälder hauen, da wo sie am dichtesten waren und das Raubwild seinen Unterschlupf bewahrete; denn solcherweis entstanden kleinere Vierkanten und war selbigem leichter beizukommen. Sodann im Herbste stellte er eine Treibjagd an; denn schon im Sommer hatte er die besten Hunde vom Hofe alle auf den Wolf dressieret, und die Dorfbursche, so im Wald gehauen hatten, waren derzeit bei einzelnen Jagden schon unterwiesen worden. Noch seh ich es vor meinen alten Augen! Der Herr Oberst, welcher dazumal seiner Gesundheit insonders froh war, ritt selber mit hinaus, und neben ihm der Junker Rolf auf einem feurigen arabischen Pferde; das war bläulich, mit weißem wehendem Schweif und Mähnen, und hatte der Vater es ihm kurz zuvor verehret. Es war sehr klug. »Gieb acht«, sagte der Junker manches Mal im Scherze, »nun wird's bald sprechen!« und nannte es Falada nach dem Märlein.
Ich stand an jenem wonnigen Morgen des Augustmondes vor meinem offenen Fenster und sah, wie sie in das Heidethal hinabritten, von dessen Blüthe der Würzeduft zu mir hinaufstieg. Welch anmuthsvolles Bild, als im ersten Anlauf der Junker auf seinem federschnellen Roß dem Herrn Oberst weit vorüberschoß, dann aber leicht sein Thier sich wenden ließ und zierlich grüßend, sein Käpplein in der Hand, mit wehendem Goldhaar zu dem Vater wiederkehrte!
Ich aber, der ich nicht reite und nicht jage, blieb daheim; erst gegen Mittag ging ich vor dem Thorhaus draußen im Sonnenscheine auf und nieder, und allmählich scholl es mit Hallo, mit Pfeifen und Trommeln aus dem Walde; Hundegebell, Schüsse und Geheul klang durcheinander; und dann erst nachmittages kam hinter unseren beiden Reitern ein Wagen mit dem erlegten Wilde die Heide hinaufgefahren, redend und schreiend die Treiber mit den Hunden hinterdrein.
Mein Vetter war nicht Diaconus geworden, und vom Verkauf des Hofes hörte ich nichts mehr. Aber eines kam itzt, welches ich hier bemerken muß: die braune Abel, die sich auch gestrecket hatte, begann wie eine Katz um unseren Junker herzustreichen. Kreuzte er ihr den Weg, dann stand sie still, bis er vorüber war; so zwar, als ob sie keine Achtung von ihm nähme; denn sie wandte kaum den Kopf zu ihm; doch hab ich wohl gewahret, daß ihre dunkeln Augensterne bis in die äußersten Winkel ihres Auges drängten und ihm also heimlich folgeten; auch hatte sie itzt ob eine Blume oder einen Fetzen rothen Bandes sich an ihr braunes Haar geheftet und trachtete überall ihm zu begegnen.
Eines Abends im August, da alles Gesinde schon in den Betten lag, promenierte ich einsam, meiner fernen Mutter denkend, im Gärtlein hinter der Westseite des Hauses, das der Oberst schon zu Anfang seiner Ehe angeleget und gegen das grobe Raubzeug mit einer hohen Mauer hatte umschließen lassen. Die Singvögel waren schon zur Ruh gegangen; aber der Würzeduft von Nelken und Jasminen erfüllete ihn ganz; die Sterne schimmerten so ruhig, es war eine warme Sommernacht.
Da ich eben auf dem breiten Steige an dem Hause hinaufging, hörte ich unfern eine Eule schreien, die ich für den frechen Waldkauz wohl erkannte; dann war es wieder, als ob in einen Baum geworfen würde, und es polterte etwas durch das Gezweig zur Erde. Ich stand still; es kam noch einmal, und »Ksch, ksch!« rief eine kleine zornige Stimme; »flieg doch zu deinen Teufeln!«
›Wer ist das?‹ frug ich mich selber; und wiederum, schon ganz in meiner Nähe, fiel etwas durch die Zweige eines großen Dornbaumes; aus einem offenen Fenster zur Seite einer Gangthür, so aus dem Hause hier in den Garten führete, rief eine müde Stimme, wie aus schweren Kissen: »Laß nur den Vogel, Kind; die Nacht bleibt doch lebendig!«
Und im Sternenschein sah ich eine halb aufgeschossene Dirne, schier im bloßen Hemde, in dem offenen Fenster stehen. »Abel!« rief ich, »führest du Krieg hier mit den Eulen?«
»Ja, Herr Magister!« rief das Kind fast weinend, »sie will nicht weg; meine Möddersch kann nicht schlafen!«
Da ich unter den Baum trat, flog die Eule ohne Laut davon; aber aus den Zweigen fiel es noch einmal auf den Grund, und da ich mich bückte, lagen Schuh und Kloppen und Bürsten rings umher.
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