Und als sie eine Weile so gelegen, hat der Knabe mit seiner Hand ihr in das magere Angesicht gegriffen; aber sie rührte sich nicht mehr. Da schrie er, und die Wärterin trug ihn hinaus.

Als der Oberst vom Begräbnis auf dem Klosterkirchhof, wo man seine Frau nach ihrem Wunsch bestattet hatte, heimgekommen war, nahm er seinen Buben auf den Arm. »Die Mutter hat hier schlafen wollen«, sagte er, »wir beide gehen nach Grieshuus; ich will nun selber deinen Hof verwalten, da sollst du reiten lernen!«

Und der Junge sah seinen Vater fest aus seinen dicht beisammenstehenden blauen Augen an; dann tat er einen lauten Lustschrei.

– – So ist der Oberst, da im nächsten April an den Waldrändern von Grieshuus die Schlüsselblumen blühten, da die Äcker gedüngt und die Wintersaaten gewalzt wurden, mit seinem Buben in das Herrenhaus dort eingezogen. Eine ältliche Verwandte der Verstorbenen, das Klosterfräulein Heide von der Wisch, ist mit dahin gegangen, um, wie sie sagte, bis die Flüttezeit vorüber, être la mère à ce pauvre enfant; sie ist aber dort hängengeblieben und nach dem Kloster nicht zurückgekommen, obwohl der Knabe nie nach ihrer Hand gegriffen hat.

Oben im Hause sind die ungeschlachten Möbeln nach dem Boden hinauf- oder in die Gesinderäume hinabgeschafft worden; im Wohngemache standen nun geschweifte Schränke und Chiffonnieren, und auch ein Kanapee mit farbig gemustertem Bezuge, worüber neben dem vorgefundenen Bild der Urgroßmutter auch das der Mutter des Besitzers hing. Es pflegt so zu geschehen: das schönste, das Bild der Großmutter, fehlte zwischen beiden; sie war gekommen und gegangen, und keiner wußte noch von ihr.

Im Wesentlichen wurde es auf dem abgelegenen Hofe nicht gar anders, als es im vorigen Jahrhunderte gewesen war. Denn Deutschland erhob sich eben erst aus wüsten Träumen. Die neue Koppelwirtschaft wurde freilich eingeführt; aber der Oberst war ein Melancholikus und litt an den Übelständen einer alten Wunde; überdies war er weder ein Landwirt noch ein Jäger, und beides war hier groß vonnöten. Für letzteren gab sich zwar ein hungriger Verwandter der alten Herrschaft, der nach Jahr und Tag sich zum Besuche eingefunden hatte und gleichfalls nicht wieder fortgegangen wer; aber es hatte nichts Sonderliches zu bedeuten. Nur einmal, an einem Winterabend, war hinter dem Turmhaus ein Rehbock von ihm geschossen worden; allein zur Küche war er nicht gekommen, denn mit selbigem, daß das Tier zusammengebrochen, hatte ein dürrbeiniger Wolf sich darauf zugestürzt und es an der Kehle mühsam fortgeschleift; der Vetter aber war mit erhobenen Händen durch die Heidemulde nach dem Hofe zu gerannt. »Hol der Teufel Eure Wölfe hier! Das ist nicht in der Ordnung!« hatte er im Hausflur dem Oberst zugerufen; der aber hatte nur gelächelt: »Freilich nicht, Vetter; jedoch ich meinte, das sei Ihre Sache.«

»Ei, das versteht sich, Oberst! Aber die Hunde! Ich soll nur erst die rechten Hunde haben.«

»Aber ich denk, Ihr habet ja den ganzen Stall schon voll davon.«

»Nun, nun; gehet nur hinauf und kramet die Karten vor; ich will mir nur den nassen Rock vom Leibe ziehen; dann wollen wir die vier Könige jagen.«

Und bald saßen sie sich gegenüber bei ihrem Pikett; und der Oberst war damit zufrieden.

– – Als der Junker Rolf im siebenten Jahre war, lehrte der Vetter ihn lesen und nach Adam Riese rechnen; das konnte er, sogar auch mensa und amo deklinieren und konjugieren. Der Knabe lernte leicht und rief mitunter: »Ich kann's doch besser noch als du!« Dann freute sich der Vetter und lief zu dem Vater: »He, Oberst, höret, was Euer philosophus da redet!«, und den Jungen, wenn er hintennachgelaufen war, bei den Ohren in die Höhe hebend, rief er: »Ich hab's dich doch gelehret, Tausendsakramenter!«

Des Knaben Freundin war eine alte Magd, die schon die Mutter als kleines Kind getragen hatte, die von hier zur Stadt und wieder von dort hieher zurückgebracht war. »Ich will Matten fragen!« rief der Bube, wenn er selbst nicht wußte, was er wollte. Sie hatte ihr Augenlicht fast ganz verloren und saß meist unten in der großen Gesindestube oder am Herde in der Küche, beschaffend, was einem blinden Menschen möglich war; und wenn er sie gefunden hatte und, auf sie losstürmend, sie an der Schürze riß, dann sagte sie wohl: »Kind, Kind, gib Ruh; was willst du denn? Bei Gott ist Rat und Tat!« und sah mit ihren toten in seine lebendigen blauen Augen. Und frug sie weiter: »Sprich, was willst du, Rolfchen?«, dann sprach er wohl ganz kleinlaut: »Weiß nicht, Matten; – erzähl mir was!« Und sie legte das Messer, oder was sonst ihre Finger hielten, fort und frug: »Was denn erzählen, Kind?« Er war auf ihren Schoß gekrochen und rief: »Von Owe Heikens, wie du zuviel Holz gebrochen hattest! Nein« – und er flüsterte ihr ins Ohr: »Erzähl mir von der schönen Frau, da auf dem Meierhof; wie hieß sie doch?« – »Kind, Kind, das war ja deine Großmutter!« – Der Knabe sah ihr lange ins Gesicht. »Großmutter?« sagte er langsam. »War sie denn schon alt?« – »Alt?« Und Matten wiegte ihren grauen Kopf. »So jung wie Maililien! Wenn der Tod kommt, bleiben auch die Großmütter jung. Sei still und halt's für dich, so will ich dir erzählen!«

In einem aber war der Vater selbst des Buben Lehrmeister; er kaufte ihm erst einen, und als er größer wurde, einen zweiten von den kleinen türkischen Kleppern und ließ draußen an der Ostseite eine Reitbahn richten; und die Peitsche des Obersten klatschte, und der Junge lag bald auf dem Rappen, bald auf dem braunen Klepper.

Plötzlich aber wurde es anders zu Grieshuus. Der Oberst, da an dessen Geburtstage der Junker mit einem unter des Vetters Anweisung gefertigten Glückwünschungsbriefe vor den »herzallerliebsten« Papa getreten war, hatte danach nichts Eiligeres zu tun, als durch seinen pastor loci einen Informator zu besorgen. Dadurch ist der Magister Caspar Bokenfeld auf den Hof gekommen, und mit ihm ein Mann, dem ich von nun an die Erzählung in eigenem Namen überlassen kann.

Während der ersten Herbstvakanz in meiner Studentenzeit war ich daheim und wurde bei einem Besuche der Stelle von Grieshuus durch ein heftig Wetter in das Haus des Küsters in dem nahen Dorfe eingetrieben. Er war ein schon bejahrter Mann, den ich bisher nicht kannte; wir saßen uns bald am Fenster gegenüber, und ich sah auf die Ostseite der alten Felsenkirche, an welcher noch die schweren Eisenringe hingen, so daß ich ohne Umstand das Gespräch auf jene alten Dinge bringen konnte. Er hatte mir ruhig zugehört; als ich jedoch bekannte, daß mir die dortigen Ereignisse des achtzehnten Jahrhunderts minder klargeworden seien als die des vorigen, stand er auf und ging nebenan in eine Kammer, aus der ich das Auf-und Zuschließen eines Schrankes oder einer Lade zu vernehmen glaubte. Als er zurückkam, legte er ein vergilbtes Schriftstück in den mir hinlänglich bekannten Zügen des letzten Jahrhunderts vor mir hin.

»Klar ist das auch nicht«, sagte er; »aber es ist erzählt, was sich begeben hat. Der Autor war einer meiner Vorfahren und Pastor an hiesiger Kirche, nachdem er sich das als Informator auf dem Hof verdient hatte.«

Ich faßte mit Andacht das Papier; die alte Zeit begann ja selbst zu sprechen. Dann hab ich's mit des Küsters Erlaubnis noch am selben Nachmittage abgeschrieben und bin erst nach Haus gekommen, als die derzeit einzige Gassenleuchte an der Hafenstraße schon von dem Nachtwächter ausgetan war.

Und hier ist es:

 

DIE NIEDERSCHRIFT

DES MAGISTERS CASPAR BOKENFELD

 

Anno 1702, in welchem nachmals unser Herzog Fridericus IV., des hartgeprüften Christian Albrechts Sohn, bei Klissow in Polen für seinen Schwager, den Schwedischen Carolum XII., sein junges Leben gab, im Januar am Sonntage Epiphanias war es, da ich Grieshuus zum ersten Mal betrat. Es bimmelte schon unten von dem Kirchthurm zum Gottesdienste, und die helle Wintersonne strich an den Fenstern entlang, als der Herr Oberst auf seinem zierlich ausgerüsteten Zimmer mir seinen Sohn als Zögling zuführte. »Das ist der Magister Bokenfeld«, sprach er zu dem elfjährigen Knaben; »der soll nun versuchen, was aus dir zu machen ist.«

Der Bube sah mich aus ein Paar scharfen blauen Augen an, als ob er im hintersten Hirnwinkel mich aussuchen wolle, und sagte dann, mirabile dictu: »Kann Er auch reiten, Magister?«

Da lachte der Herr Oberst und schlug ihn auf die Schulter: »Ei, Teufelsjunge, reiten soll er dir nicht weisen; aber ›Sie‹ sollst du den Magister titulieren: er wird dir schon zeigen, wo die Geigen hängen!«

Siehe, da wurde mir der Odem leicht; denn mit denen von Adel hatte ich nimmer noch verkehret; der kleine Junker aber hat mich in Tagen nimmer angesprochen, bis das Herz ihm einmal jählings überquollen; da sprach er: »Sie sind gut, Herr Magister!« und gab mir seine feste kleine Hand; ich aber nahm das edle Kind in meinen Arm. »Wir wollen Freunde werden, Rolf!« sagte ich; da umfassete er mich heftig, und sein geringelt Goldhaar hing noch lange über meine Hand herab. Auch war das nicht umsonst gesprochen; – mein Rolf, mein schöner guter Knabe, weshalb der Vater droben dich doch so früh begehret hat!

– – Es war recht einsam zu Grieshuus. Der Oberst kränkelte und verließ das Haus nur selten; an jeglichem Abend spielte er sein Pikett oder eine Partie Dame mit einem Familienvetter, der hier im Hause lebte; ein sonderlicher Mann, der alles zu verstehen meinte und gleichwohl ohne alle Erudition war.