Er hatte mir ruhig zugehört; als ich jedoch bekannte, daß mir die dortigen Ereignisse des achtzehnten Jahrhunderts minder klargeworden seien als die des vorigen, stand er auf und ging nebenan in eine Kammer, aus der ich das Auf-und Zuschließen eines Schrankes oder einer Lade zu vernehmen glaubte. Als er zurückkam, legte er ein vergilbtes Schriftstück in den mir hinlänglich bekannten Zügen des letzten Jahrhunderts vor mir hin.
»Klar ist das auch nicht«, sagte er; »aber es ist erzählt, was sich begeben hat. Der Autor war einer meiner Vorfahren und Pastor an hiesiger Kirche, nachdem er sich das als Informator auf dem Hof verdient hatte.«
Ich faßte mit Andacht das Papier; die alte Zeit begann ja selbst zu sprechen. Dann hab ich's mit des Küsters Erlaubnis noch am selben Nachmittage abgeschrieben und bin erst nach Haus gekommen, als die derzeit einzige Gassenleuchte an der Hafenstraße schon von dem Nachtwächter ausgetan war.
Und hier ist es:
DIE NIEDERSCHRIFT
DES MAGISTERS CASPAR BOKENFELD
Anno 1702, in welchem nachmals unser Herzog Fridericus IV., des hartgeprüften Christian Albrechts Sohn, bei Klissow in Polen für seinen Schwager, den Schwedischen Carolum XII., sein junges Leben gab, im Januar am Sonntage Epiphanias war es, da ich Grieshuus zum ersten Mal betrat. Es bimmelte schon unten von dem Kirchthurm zum Gottesdienste, und die helle Wintersonne strich an den Fenstern entlang, als der Herr Oberst auf seinem zierlich ausgerüsteten Zimmer mir seinen Sohn als Zögling zuführte. »Das ist der Magister Bokenfeld«, sprach er zu dem elfjährigen Knaben; »der soll nun versuchen, was aus dir zu machen ist.«
Der Bube sah mich aus ein Paar scharfen blauen Augen an, als ob er im hintersten Hirnwinkel mich aussuchen wolle, und sagte dann, mirabile dictu: »Kann Er auch reiten, Magister?«
Da lachte der Herr Oberst und schlug ihn auf die Schulter: »Ei, Teufelsjunge, reiten soll er dir nicht weisen; aber ›Sie‹ sollst du den Magister titulieren: er wird dir schon zeigen, wo die Geigen hängen!«
Siehe, da wurde mir der Odem leicht; denn mit denen von Adel hatte ich nimmer noch verkehret; der kleine Junker aber hat mich in Tagen nimmer angesprochen, bis das Herz ihm einmal jählings überquollen; da sprach er: »Sie sind gut, Herr Magister!« und gab mir seine feste kleine Hand; ich aber nahm das edle Kind in meinen Arm. »Wir wollen Freunde werden, Rolf!« sagte ich; da umfassete er mich heftig, und sein geringelt Goldhaar hing noch lange über meine Hand herab. Auch war das nicht umsonst gesprochen; – mein Rolf, mein schöner guter Knabe, weshalb der Vater droben dich doch so früh begehret hat!
– – Es war recht einsam zu Grieshuus. Der Oberst kränkelte und verließ das Haus nur selten; an jeglichem Abend spielte er sein Pikett oder eine Partie Dame mit einem Familienvetter, der hier im Hause lebte; ein sonderlicher Mann, der alles zu verstehen meinte und gleichwohl ohne alle Erudition war. Der Oberst war ein Wittmann; aber eine adelige Klosterjungfer Adelheid hielt strenge Hauswirtschaft; sie rief mir selber einmal am Sonntagnachmittage zu: »Gieb Er mir Seinen linken Strumpf, Magister; da soll die Sonn Ihm bald nicht mehr auf Seine Wade brennen!« Und als ich hinsah, siehe, da war ein Loch im Strumpfe, und ich schlich gar beschämt davon, um solchen Fehler aufzubessern.
Mir war das Zimmer über der Einfahrt in dem Thorhaus eingeräumt; ich hatte meine Bücher mit mir, und war es wohl zum ersten Male, daß Homerus und Virgilius, Arnoldus und Thomasius die Wände hier verzierten. In der Thorfahrt unten hatte der Meiereikeller ein Fenster, und es hieß, oftmals, so man nächtens vorüberschreite, solle von dort aus ein Rahmschöpfen und Umgießen deutlich hörbar werden, was in Wirklichkeit nicht sei; aber das sind nugae; es ist allzeit ruhig gewesen, wenn ich gegenüber meine enge Treppe aufgestiegen bin. Aber drinnen in meiner Kammer war es gar einsam, wenn die Nachtruhe über den Hof gekommen war und ich noch über meinen Büchern saß. Wenn dann der Mond am Himmel stand und ich von der Arbeit zu dem einzigen Fenster trat, dann sah ich ein tiefes Heidefeld, das zwischen zwei hohen Waldseiten auslief; und mitunter drang ein seltsam Heulen aus der Ferne, von dorten, wo ich bei Tage ein altes Thurmhaus hatte stehen sehen; da ich es zum ersten Male hörte, schritt ich zur Thür und schob den Riegel vor; dann löschte ich das Licht und legte mich schlafen. Das Heulen, das noch länger durch die Nacht scholl, ist aber von den hungerigen Wölfen kommen, deren derzeit im Übermaße hier gewesen; und ich hab noch lang gelegen und gehorchet; mir war, als könnten sie durch die offene Thorfahrt kommen und mit den Tatzen meine Thür anfallen.
Als ich am Morgen dem Junker Rolf davon erzählte, sprach er: »Da in der Heide müssen Sie itzt nimmer gehen, Herr Magister; ich bin zu Pferde dort gewesen und doch fast vom Leben abgekommen!«
Und auf meine Bitte hat er es also mir erzählet: Eine grimmige Kälte ist es dazumal gewesen, am Nachmittage vor dem letzten Heiligabend, zwei Wochen nur vor meiner Herkunft, und wie bleicher Messingglanz hat die Dezembersonne über die Heide hingeglinstert. Droben in dem großen Saale hat die Tante Heide herumgehamstert, ganz mutterseelenallein, und hat niemand hinein dürfen, weder vom Gesinde, noch auch der Junker Rolf, wohl selber kaum der Oberst; denn für alle ist da drinnen die Weihnachtsbescherung aufgebauet worden; der Vetter nur ist eigenwillig aus-und eingehuschet, denn er hat's gar besser noch verstanden als die Tante. Junker Rolf aber ist vor Ungeduld treppauf und – ab gesprungen, auch auf den Hof und in die Ställe eingelaufen und zuletzt dann in des Oberst Zimmer, wo dieser mit dem Verwalter vor der Gutsrechnung gesessen: »Was soll ich anfangen, Papa? Um fünf Uhr erst will Tante Heide schellen!«
»So geh zu deiner Freundin, der alten Matten!«
»Mag ich heut nicht, Papa.«
»So reit noch eine Stunde!« hat der Oberst ihm gesagt und kaum von seinen Büchern aufgesehen; »und nimm den Braunen an die Leine!«
Drauf ist der Junker in den Stall gegangen, wo die beiden Klepper an der Krippe standen, und hat dem Knecht gerufen, daß er ihm den Rappen sattle und ihm den Braunen an die Hand gehe.
»Hopp, Stella! Fera, hallo!« Und so ist er in den bleichen Winterschein auf die Heide hinausgeritten; die Mulde hinunter und weiter, immerzu über den hartgefrorenen Boden. »Hussa!« Und er hat seine kleine Kappe mit der braunen Geierfeder vor Lust geschwenket, und die kleinen feurigen Rosse haben getanzt, als wüßten auch sie, daß heut noch Weihnacht-Heiligabend sei.
Plötzlich ist die Sonne weg gewesen. Noch kurze Weile hat das schwarze Heidekraut geleuchtet; dann hat die große dunkle Schattendecke sich gebreitet, und bald danach ist vom Himmel mehr zu sehen gewesen als drunten von der Erden. »Oh, lieb Christkindel«, hat der kleine Reiter gerufen; »nun wird wohl bald für dich gebimmelt werden!«
Mit diesem wandte er seine beiden Rosse, die gleich als Hunde seiner jungen Hand gehorchten. »Hopp, Fera! Stella, hopp!« Und heimwärts ging es noch viel fröhlicher als hinaus. Mitunter ließ er seine flinken Augen seitwärts über die dunkeln Heidebreiten streichen, aber sehen konnte er nichts; nichts war zu hören als der Trab der Pferde auf dem harten Boden und das eigene Athemholen, denn das meiste Gethier schlief unten in seinen Winterhöhlen; nur über ihm flammten und zitterten die Sterne in der grimmen Winterkälte.
Da, als er schon der rechtshin auslaufenden Waldspitze gegenüber war, die sich noch schwach am Abendhimmel merkbar machte, hörte er von dorten etwas durch die Heide trotten. Um besser zu hören, zog er den Zügel an; aber die Pferde warfen mit den Köpfen, schnoben und drängten mit allen Kräften vorwärts. Der Junker hat zuerst gedacht, es sei ihr Hatzrüde, der seit ehegestern fort gewesen, und: »Fuko, Fuko!« hat er laut hinausgerufen.
Dann ist er vor seinem eigenen Ruf erschrocken, denn es ist ihm jäh aufs Herz gefallen, daß vor dem Fuko, der ihr Stallkamerad gewesen, seine Klepper nicht solch ein Zittern und Schäumen überkommen würde. Und immer näher ist es auf ihn zu getrottet. Der Pferde ist er so unmächtig geworden, daß sie mit ihrem jungen Reiter, als ob sie flögen, gegen den Herrenhof dahingeraset sind, der nur noch aus einem schwebenden Lichtschein über der Höhe kenntlich war.
Immer toller ist die Jagd gegangen, und da ist es dicht an ihm heran gewesen. »Ein Wolf! Ein Wolf! Hülfe, Hülfe!« hat das Kind geschrien und dabei seine Peitsche geschwungen, unachtend, daß es dessen nicht bedurfte. Dann gab es einen Ruck; der Rappe hatte mit den Vorderhufen ausgehauen, daß Junker Rolf die blanken Eisen durch das Dunkel blitzen sah; er hatte die Füße aufgezogen und lag mit der Brust auf dem Halse seines Pferdes.
Das aber stieß einen Zeterschrei aus, und sausend ging es nach dem Hofe und schon dem Aufstieg und dem Thore zu: »Kilian! Marten! Jens!« Er wußte selber nicht, wen er gerufen hatte, aber ein Geheul ist von dem Hofe losgebrochen; und Fuko und die andern Hunde sind hinausgestürzet und um das Pferd herum, und die glimmenden Augen an dessen Seite sind in die Nacht zurückgewichen. Rosse, Reiter und Hunde sind durch die offene Thorfahrt in den Hof hineingebrochen.
»Aber der Wolf, der grise Hund«, sagte der Junker und nickte mir mit seinen blauen Augen zu, »hat doch mein Pferd gebissen; es ist noch lang nicht besser; der Vetter kann es nicht kurieren.«
Es war kurz danach, am Vormittage des zweiten Sonntags nach Epiphanias. Draußen über den Reitplatz fegte der Nordost; derohalben ließ der Herr Oberst den kleinen Rappen nach dem Schloßhof führen, denn die Wunde an der Kehle, so der Wolf dem Thiere zugefüget, wollte noch immer sich nicht schließen, obschon von dem Vetter und dem alten Schäfer mit Wundwasser und Kräutersalben wacker dazu gethan war.
Der Junker Rolf stand neben mir auf der Freitreppe vor dem Herrenhause; wir sahen zu, wie der Herr Oberst dem Rappen mit linder Hand über die wunde Stelle strich und dem muthigen Thiere beschwichtigende Worte zusprach.
»Wird bald baten, Gnaden Herr Oberst!« sagte der Schäfer; und der Vetter, der auch daneben stand, steckte die Hände in seine weiten Hosensäcke und sprach wie allzeit, wenn er seiner Weisheit auf den Boden sah: »Freilich, freilich, Oberst; will nur alles seine Weile haben.« Der Oberst aber schüttelte den Kopf und warf einen gar despektierlichen Blick auf den sorglosen alten Herrn: »Gegen Wölfe und Wunden helfen nicht bloße Worte, davon Ihr großen Vorrath habet!«
Indem hörte ich Schritte von der Einfahrt her und sah über den Rappen weg einen hohen, aber schon stark ergrauenden Mann in den Hof treten; er trug ein lederfarben Wams und hatte einen Hirschfänger am Gurte hängen, war auch sonst in seiner Kleidung wie damals solche, die im Jagd- oder Forstwesen in hoher Herren Diensten standen; aber in seinem Antlitz waren tiefe Furchen. Ihm zu jeder Seite ging ein gar gewaltiger brauner Schweißhund mit breitem Ohrgehänge, welche mit ihm auf uns zuschritten.
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