Die Verdüsterung des Himmels über dem Menschen hat immer im Verhältnis dazu überhand genommen, als die Scham des Menschen vor dem Menschen gewachsen ist. Der müde pessimistische Blick, das Mißtrauen zum Rätsel des Lebens, das eisige Nein des Ekels am Leben – das sind nicht die Abzeichen der bösesten Zeitalter des Menschengeschlechts: sie treten vielmehr erst an das Tageslicht als die Sumpfpflanzen, die sie sind, wenn der Sumpf da ist, zu dem sie gehören – ich meine die krankhafte Verzärtlichung und Vermoralisierung, vermöge deren das Getier »Mensch« sich schließlich aller seiner Instinkte schämen lernt. Auf dem Wege zum »Engel« (um hier nicht ein härteres Wort zu gebrauchen) hat sich der Mensch jenen verdorbenen Magen und jene belegte Zunge angezüchtet, durch die ihm nicht nur die Freude und Unschuld des Tiers widerlich, sondern das Leben selbst unschmackhaft geworden ist – so daß er mitunter vor sich selbst mit zugehaltener Nase dasteht und mit Papst Innozenz dem Dritten mißbilligend den Katalog seiner Widerwärtigkeiten macht (»unreine Erzeugung, ekelhafte Ernährung im[808] Mutterleibe, Schlechtigkeit des Stoffs, aus dem der Mensch sich entwickelt, scheußlicher Gestank, Absonderung von Speichel, Urin und Kot«). Jetzt, wo das Leiden immer als erstes unter den Argumenten gegen das Dasein aufmarschieren muß, als dessen schlimmstes Fragezeichen, tut man gut, sich der Zeiten zu erinnern, wo man umgekehrt urteilte, weil man das Leiden-machen nicht entbehren mochte und in ihm einen Zauber ersten Rangs, einen eigentlichen Verführungs-Köder zum Leben sah. Vielleicht tat damals – den Zärtlingen zum Trost gesagt – der Schmerz noch nicht so weh wie heute; wenigstens wird ein Arzt so schließen dürfen, der Neger (diese als Repräsentanten des vorgeschichtlichen Menschen genommen –) bei schweren inneren Entzündungsfällen behandelt hat, welche auch den bestorganisierten Europäer fast zur Verzweiflung bringen – bei Negern tun sie dies nicht. (Die Kurve der menschlichen Schmerzfähigkeit scheint in der Tat außerordentlich und fast plötzlich zu sinken, sobald man erst die oberen Zehn-Tausend oder Zehn-Millionen der Überkultur hinter sich hat; und ich für meine Person zweifle nicht, daß, gegen eine schmerzhafte Nacht eines einzigen hysterischen Bildungs-Weibchens gehalten, die Leiden aller Tiere insgesamt, welche bis jetzt zum Zweck wissenschaftlicher Antworten mit dem Messer befragt worden sind, einfach nicht in Betracht kommen.) Vielleicht ist es sogar erlaubt, die Möglichkeit zuzulassen, daß auch jene Lust an der Grausamkeit eigentlich nicht ausgestorben zu sein brauchte: nur bedürfte sie, im Verhältnis dazu, wie heute der Schmerz mehr wehtut, einer gewissen Sublimierung und Subtilisierung, sie müßte namentlich ins Imaginative und Seelische übersetzt auftreten und geschmückt mit lauter so unbedenklichen Namen, daß von ihnen her auch dem zartesten hypokritischen Gewissen kein Verdacht kommt (das »tragische Mitleiden« ist ein solcher Name; ein andrer ist »les nostalgies de la croix«). Was eigentlich gegen das Leiden empört, ist nicht das Leiden an sich, sondern das Sinnlose des Leidens: aber weder für den Christen, der in das Leiden eine ganze geheime Heils-Maschinerie hineininterpretiert hat, noch für den naiven Menschen älterer Zeiten, der alles Leiden sich in Hinsicht auf Zuschauer oder auf Leiden-Macher auszulegen verstand, gab es überhaupt ein solches sinnloses Leiden. Damit das verborgne, unentdeckte, zeugenlose Leiden aus der Welt geschafft und ehrlich negiert[809] werden konnte, war man damals beinahe dazu genötigt, Götter zu erfinden und Zwischenwesen aller Höhe und Tiefe, kurz etwas, das auch im Verborgnen schweift, das auch im Dunklen sieht und das sich nicht leicht ein interessantes schmerzhaftes Schauspiel entgehen läßt. Mit Hilfe solcher Erfindungen nämlich verstand sich damals das Leben auf das Kunststück, auf das es sich immer verstanden hat, sich selbst zu rechtfertigen, sein »Übel« zu rechtfertigen; jetzt bedürfte es vielleicht dazu andrer Hilfs-Erfindungen (zum Beispiel Leben als Rätsel, Leben als Erkenntnisproblem). »Jedes Übel ist gerechtfertigt, an dessen Anblick ein Gott sich erbaut«: so klang die vorzeitliche Logik des Gefühls – und wirklich, war es nur die vorzeitliche? Die Götter als Freunde grausamer Schauspiele gedacht – o wie weit ragt diese uralte Vorstellung selbst noch in unsre europäische Vermenschlichung hinein! man mag hierüber etwa mit Calvin und Luther zu Rate gehn. Gewiß ist jedenfalls, daß noch die Griechen ihren Göttern keine angenehmere Zukost zu ihrem Glücke zu bieten wußten, als die Freuden der Grausamkeit. Mit welchen Augen glaubt ihr denn, daß Homer seine Götter auf die Schicksale der Menschen niederblicken ließ? Welchen letzten Sinn hatten im Grunde trojanische Kriege und ähnliche tragische Furchtbarkeiten? Man kann gar nicht daran zweifeln: sie waren als Festspiele für die Götter gemeint: und, insofern der Dichter darin mehr als die übrigen Menschen »göttlich« geartet ist, wohl auch als Festspiele für die Dichter... Nicht anders dachten sich später die Moral-Philosophen Griechenlands die Augen Gottes noch auf das moralische Ringen, auf den Heroismus und die Selbstquälerei des Tugendhaften herabblicken: der »Herakles der Pflicht« war auf einer Bühne, er wußte sich auch darauf; die Tugend ohne Zeugen war für dies Schauspieler-Volk etwas ganz Undenkbares. Sollte nicht jene so verwegene, so verhängnisvolle Philosophen-Erfindung, welche damals zuerst für Europa gemacht wurde, die vom »freien Willen«, von der absoluten Spontaneität des Menschen im Guten und im Bösen, nicht vor allem gemacht sein, um sich ein Recht zu der Vorstellung zu schaffen, daß das Interesse der Götter am Menschen, an der menschlichen Tugend sich nie erschöpfen könne? Auf dieser Erden-Bühne sollte es niemals an wirklich Neuem, an wirklich unerhörten Spannungen, Verwicklungen, Katastrophen gebrechen: eine[810] vollkommen deterministisch gedachte Welt würde für Götter erratbar und folglich in Kürze auch ermüdend gewesen sein – Grund genug für diese Freunde der Götter, die Philosophen, ihren Göttern eine solche deterministische Welt nicht zuzumuten! Die ganze antike Menschheit ist voll von zarten Rücksichten auf »den Zuschauer«, als eine wesentlich öffentliche, wesentlich augenfällige Welt, die sich das Glück nicht ohne Schauspiele und Feste zu denken wußte. – Und, wie schon gesagt, auch an der großen Strafe ist so viel Festliches!...

 

8

Das Gefühl der Schuld, der persönlichen Verpflichtung, um den Gang unsrer Untersuchung wieder aufzunehmen, hat, wie wir sahen, seinen Ursprung in dem ältesten und ursprünglichsten Personen-Verhältnis, das es gibt, gehabt, in dem Verhältnis zwischen Käufer und Verkäufer, Gläubiger und Schuldner: hier trat zuerst Person gegen Person, hier maß sich zuerst Person an Person. Man hat keinen noch so niedren Grad von Zivilisation aufgefunden, in dem nicht schon etwas von diesem Verhältnisse bemerkbar würde. Preise machen, Werte abmessen, Äquivalente ausdenken, tauschen – das hat in einem solchen Maße das allererste Denken des Menschen präokkupiert, daß es in einem gewissen Sinne das Denken ist: hier ist die älteste Art Scharfsinn herangezüchtet worden, hier möchte ebenfalls der erste Ansatz des menschlichen Stolzes, seines Vorrangs-Gefühls in Hinsicht auf anderes Getier zu vermuten sein. Vielleicht drückt noch unser Wort »Mensch« (manas) gerade etwas von diesem Selbstgefühl aus: der Mensch bezeichnete sich als das Wesen, welches Werte mißt, wertet und mißt als das »abschätzende Tier an sich«. Kauf und Verkauf, samt ihrem psychologischen Zubehör, sind älter als selbst die Anfänge irgendwelcher gesellschaftlichen Organisationsformen und Verbände: aus der rudimentärsten Form des Personen-Rechts hat sich vielmehr das keimende Gefühl von Tausch, Vertrag, Schuld, Recht, Verpflichtung, Ausgleich erst auf die gröbsten und anfänglichsten Gemeinschafts-Komplexe (in deren Verhältnis zu ähnlichen Komplexen) übertragen, zugleich mit der Gewohnheit, Macht an Macht zu vergleichen, zu messen, zu berechnen. Das Auge war nun einmal für[811] diese Perspektive eingestellt: und mit jener plumpen Konsequenz, die dem schwerbeweglichen, aber dann unerbittlich in gleicher Richtung weitergehenden Denken der älteren Menschheit eigentümlich ist, langte man alsbald bei der großen Verallgemeinerung an »jedes Ding hat seinen Preis; alles kann abgezahlt werden« – dem ältesten und naivsten Moral-Kanon der Gerechtigkeit, dem Anfange aller »Gutmütigkeit«, aller »Billigkeit«, alles »guten Willens«, aller »Objektivität« auf Erden. Gerechtigkeit auf dieser ersten Stufe ist der gute Wille unter ungefähr Gleichmächtigen, sich miteinander abzufinden, sich durch einen Ausgleich wieder zu »verständigen« – und, in bezug auf weniger Mächtige, diese unter sich zu einem Ausgleich zu zwingen. –

 

9

Immer mit dem Maße der Vorzeit gemessen (welche Vorzeit übrigens zu allen Zeiten da ist oder wieder möglich ist): so steht auch das Gemeinwesen zu seinen Gliedern in jenem wichtigen Grundverhältnisse, dem des Gläubigers zu seinen Schuldnern. Man lebt in einem Gemeinwesen, man genießt die Vorteile eines Gemeinwesens (o was für Vorteile! wir unterschätzen es heute mitunter), man wohnt geschützt, geschont, im Frieden und Vertrauen, sorglos in Hinsicht auf gewisse Schädigungen und Feindseligkeiten, denen der Mensch außerhalb, der »Friedlose«, ausgesetzt ist – ein Deutscher versteht, was »Elend«, êlend ursprünglich besagen will –, wie man sich gerade in Hinsicht auf diese Schädigungen und Feindseligkeiten der Gemeinde verpfändet und verpflichtet hat. Was wird im andren Fall geschehn? Die Gemeinschaft, der getäuschte Gläubiger, wird sich bezahlt machen, so gut er kann, darauf darf man rechnen. Es handelt sich hier am wenigsten um den unmittelbaren Schaden, den der Schädiger angestiftet hat: von ihm noch abgesehn, ist der Verbrecher vor allem ein »Brecher«, ein Vertrags- und Wortbrüchiger gegen das Ganze, in bezug auf alle Güter und Annehmlichkeiten des Gemeinlebens, an denen er bis dahin Anteil gehabt hat. Der Verbrecher ist ein Schuldner, der die ihm erwiesenen Vorteile und Vorschüsse nicht nur nicht zurückzahlt, sondern sich sogar an seinem Gläubiger vergreift: daher geht er von nun an, wie billig, nicht nur aller dieser Güter und Vorteile[812] verlustig – er wird vielmehr jetzt daran erinnert, was es mit diesen Gütern auf sich hat. Der Zorn des geschädigten Gläubigers, des Gemeinwesens, gibt ihn dem wilden und vogelfreien Zustande wieder zurück, vor dem er bisher behütet war: es stößt ihn von sich – und nun darf sich jede Art Feindseligkeit an ihm auslassen. Die »Strafe« ist auf dieser Stufe der Gesittung einfach das Abbild, der Mimus des normalen Verhaltens gegen den gehaßten, wehrlos gemachten, niedergeworfnen Feind, der nicht nur jedes Rechtes und Schutzes, sondern auch jeder Gnade verlustig gegangen ist; also das Kriegsrecht und Siegesfest des Vae victis! in aller Schonungslosigkeit und Grausamkeit – woraus es sich erklärt, daß der Krieg selbst (eingerechnet der kriegerische Opferkult) alle die Formen hergegeben hat, unter denen die Strafe in der Geschichte auftritt.

 

10

Mit erstarkender Macht nimmt ein Gemeinwesen die Vergehungen des einzelnen nicht mehr so wichtig, weil sie ihm nicht mehr in gleichem Maße wie früher für das Bestehn des Ganzen als gefährlich und umstürzend gelten dürfen: der Übeltäter wird nicht mehr »friedlos gelegt« und ausgestoßen, der allgemeine Zorn darf sich nicht mehr wie früher dermaßen zügellos an ihm auslassen – vielmehr wird von nun an der Übeltäter gegen diesen Zorn, sonderlich den der unmittelbar Geschädigten, vorsichtig von seiten des Ganzen verteidigt und in Schutz genommen. Der Kompromiß mit dem Zorn der zunächst durch die Übeltat Betroffenen; ein Bemühen darum, den Fall zu lokalisieren und einer weiteren oder gar allgemeinen Beteiligung und Beunruhigung vorzubeugen; Versuche, Äquivalente zu finden und den ganzen Handel beizulegen (die compositio); vor allem der immer bestimmter auftretende Wille, jedes Vergehn als in irgendeinem Sinne abzahlbar zu nehmen, also, wenigstens bis zu einem gewissen Maße, den Verbrecher und seine Tat voneinander zu isolieren – das sind die Züge, die der ferneren Entwicklung des Strafrechts immer deutlicher aufgeprägt sind. Wächst die Macht und das Selbstbewußtsein eines Gemeinwesens, so mildert sich immer auch das Strafrecht; jede Schwächung und tiefere Gefährdung von jenem bringt dessen härtere Formen[813] wieder ans Licht.