In einem gewissen Sinne gehört die ganze Asketik hierher: ein paar Ideen sollen unauslöschlich, allgegenwärtig,[802] unvergeßbar, »fix« gemacht werden, zum Zweck der Hypnotisierung des ganzen nervösen und intellektuellen Systems durch diese »fixen Ideen« – und die asketischen Prozeduren und Lebensformen sind Mittel dazu, um jene Ideen aus der Konkurrenz mit allen übrigen Ideen zu lösen, um sie »unvergeßlich« zu machen. Je schlechter die Menschheit »bei Gedächtnis« war, um so furchtbarer ist immer der Aspekt ihrer Bräuche; die Härte der Strafgesetze gibt insonderheit einen Maßstab dafür ab, wieviel Mühe sie hatte, gegen die Vergeßlichkeit zum Sieg zu kommen und ein paar primitive Erfordernisse des sozialen Zusammenlebens diesen Augenblicks-Sklaven des Affektes und der Begierde gegenwärtig zu erhalten. Wir Deutschen betrachten uns gewiß nicht als ein besonders grausames und hartherziges Volk, noch weniger als besonders leichtfertig und in-den-Tag-hineinleberisch; aber man sehe nur unsre alten Strafordnungen an, um dahinterzukommen, was es auf Erden für Mühe hat, ein »Volk von Denkern« heranzuzüchten (will sagen: das Volk Europas, unter dem auch heute noch das Maximum von Zutrauen, Ernst, Geschmacklosigkeit und Sachlichkeit zu finden ist, und das mit diesen Eigenschaften ein Anrecht darauf hat, alle Art von Mandarinen Europas heranzuzüchten). Diese Deutschen haben sich mit furchtbaren Mitteln ein Gedächtnis gemacht, um über ihre pöbelhaften Grund-Instinkte und deren brutale Plumpheit Herr zu werden: man denke an die alten deutschen Strafen, zum Beispiel an das Steinigen (– schon die Sage läßt den Mühlstein auf das Haupt des Schuldigen fallen), das Rädern (die eigenste Erfindung und Spezialität des deutschen Genius im Reich der Strafe!), das Werfen mit dem Pfahle, das Zerreißen- oder Zertretenlassen durch Pferde (das »Vierteilen«), das Sieden des Verbrechers in Öl oder Wein (noch im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert), das beliebte Schinden (»Riemenschneiden«), das Herausschneiden des Fleisches aus der Brust; auch wohl daß man den Übeltäter mit Honig bestrich und bei brennender Sonne den Fliegen überließ. Mit Hilfe solcher Bilder und Vorgänge behält man endlich fünf, sechs »ich will nicht« im Gedächtnisse, in bezug auf welche man sein Versprechen gegeben hat, um unter den Vorteilen der Sozietät zu leben – und wirklich! mit Hilfe dieser Art von Gedächtnis kam man endlich »zur Vernunft«! – Ah, die Vernunft, der Ernst, die Herrschaft über die Affekte, diese[803] ganze düstere Sache, welche Nachdenken heißt, alle diese Vorrechte und Prunkstücke des Menschen: wie teuer haben sie sich bezahlt gemacht! wieviel Blut und Grausen ist auf dem Grunde aller »guten Dinge«!...
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Aber wie ist denn jene andre »düstre Sache«, das Bewußtsein der Schuld, das ganze »schlechte Gewissen« auf die Welt gekommen? – Und hiermit kehren wir zu unsern Genealogen der Moral zurück. Nochmals gesagt – oder habe ich's noch gar nicht gesagt? – sie taugen nichts. Eine fünf Spannen lange eigne, bloß »moderne« Erfahrung; kein Wissen, kein Wille zum Wissen des Vergangnen; noch weniger ein historischer Instinkt, ein hier gerade nötiges »zweites Gesicht« – und dennoch Geschichte der Moral treiben: das muß billigerweise mit Ergebnissen enden, die zur Wahrheit in einem nicht bloß spröden Verhältnisse stehn. Haben sich diese bisherigen Genealogen der Moral auch nur von ferne etwas davon träumen lassen, daß zum Beispiel jener moralische Hauptbegriff »Schuld« seine Herkunft aus dem sehr materiellen Begriff »Schulden« genommen hat? Oder daß die Strafe als eine Vergeltung sich vollkommen abseits von jeder Voraussetzung über Freiheit oder Unfreiheit des Willens entwickelt hat? – und dies bis zu dem Grade, daß es vielmehr immer erst einer hohen Stufe der Vermenschlichung bedarf, damit das Tier »Mensch« anfängt, jene viel primitiveren Unterscheidungen »absichtlich«, »fahrlässig«, »zufällig«, »zurechnungsfähig« und deren Gegensätze zu machen und bei der Zumessung der Strafe in Anschlag zu bringen. Jener jetzt so wohlfeile und scheinbar so natürliche, so unvermeidliche Gedanke, der wohl gar zur Erklärung, wie überhaupt das Gerechtigkeitsgefühl auf Erden zustande gekommen ist, hat herhalten müssen, »der Verbrecher verdient Strafe, weil er hätte anders handeln können«, ist tatsächlich eine überaus spät erreichte, ja raffinierte Form des menschlichen Urteilens und Schließens; wer sie in die Anfänge verlegt, vergreift sich mit groben Fingern an der Psychologie der älteren Menschheit. Es ist die längste Zeit der menschlichen Geschichte hindurch durchaus nicht gestraft worden, weil man den Übelanstifter für seine Tat verantwortlich machte, also nicht unter der Voraussetzung, daß nur der Schuldige zu strafen[804] sei – vielmehr, so wie jetzt noch Eltern ihre Kinderstrafen, aus Zorn über einen erlittenen Schaden, der sich am Schädiger ausläßt – dieser Zorn aber in Schranken gehalten und modifiziert durch die Idee, daß jeder Schaden irgendworin sein Äquivalent habe und wirklich abgezahlt werden könne, sei es selbst durch einen Schmerz des Schädigers. Woher diese uralte, tiefgewurzelte, vielleicht jetzt nicht mehr ausrottbare Idee ihre Macht genommen hat, die Idee einer Äquivalenz von Schaden und Schmerz? Ich habe es bereits verraten: in dem Vertragsverhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner, das so alt ist, als es überhaupt »Rechtssubjekte« gibt, und seinerseits wieder auf die Grundformen von Kauf, Verkauf, Tausch, Handel und Wandel zurückweist.
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Die Vergegenwärtigung dieser Vertragsverhältnisse weckt allerdings, wie es nach dem Voraus-Bemerkten von vornherein zu erwarten steht, gegen die ältere Menschheit, die sie schuf oder gestattete, mancherlei Verdacht und Widerstand. Hier gerade wird versprochen; hier gerade handelt es sich darum, dem, der verspricht, ein Gedächtnis zu machen; hier gerade, so darf man argwöhnen, wird eine Fundstätte für Hartes, Grausames, Peinliches sein. Der Schuldner, um Vertrauen für sein Versprechen der Zurückbezahlung einzuflößen, um eine Bürgschaft für den Ernst und die Heiligkeit seines Versprechens zu geben, um bei sich selbst die Zurückbezahlung als Pflicht, Verpflichtung seinem Gewissen einzuschärfen, verpfändet kraft eines Vertrags dem Gläubiger für den Fall, daß er nicht zahlt, etwas, das er sonst noch »besitzt«, über das er sonst noch Gewalt hat, zum Beispiel seinen Leib oder sein Weib oder seine Freiheit oder auch sein Leben (oder, unter bestimmten religiösen Voraussetzungen, selbst seine Seligkeit, sein Seelen-Heil, zuletzt gar den Frieden im Grabe: so in Ägypten, wo der Leichnam des Schuldners auch im Grabe vor dem Gläubiger keine Ruhe fand – es hatte allerdings gerade bei den Ägyptern auch etwas auf sich mit dieser Ruhe). Namentlich aber konnte der Gläubiger dem Leibe des Schuldners alle Arten Schmach und Folter antun, zum Beispiel so viel davon herunterschneiden, als der Größe der Schuld angemessen schien – und es gab frühzeitig und überall von diesem Gesichtspunkte[805] aus genaue, zum Teil entsetzlich ins kleine und kleinste gehende Abschätzungen, zurecht bestehende Abschätzungen der einzelnen Glieder und Körperstellen. Ich nehme es bereits als Fortschritt, als Beweis freierer, größer rechnender, römischerer Rechtsauffassung, wenn die Zwölftafel-Gesetzgebung Roms dekretierte, es sei gleichgültig, wieviel oder wie wenig die Gläubiger in einem solchen Falle herunterschnitten »si plus minusve secuerunt, ne fraude esto«. Machen wir uns die Logik dieser ganzen Ausgleichsform klar: sie ist fremdartig genug. Die Äquivalenz ist damit gegeben, daß an Stelle eines gegen den Schaden direkt aufkommenden Vorteils (also an Stelle eines Ausgleichs in Geld, Land, Besitz irgendwelcher Art) dem Gläubiger eine Art Wohlgefühl als Rückzahlung und Ausgleich zugestanden wird – das Wohlgefühl, seine Macht an einem Machtlosen unbedenklich auslassen zu dürfen, die Wollust »de faire le mal pour le plaisir de le faire«, der Genuß in der Vergewaltigung: als welcher Genuß um so höher geschätzt wird, je tiefer und niedriger der Gläubiger in der Ordnung der Gesellschaft steht, und leicht ihm als köstlichster Bissen, ja als Vorgeschmack eines höheren Rangs erscheinen kann. Vermittelst der »Strafe« am Schuldner nimmt der Gläubiger an einem Herren-Rechte teil: endlich kommt auch er einmal zu dem erhebenden Gefühle, ein Wesen als ein »Unter-sich« verachten und mißhandeln zu dürfen – oder wenigstens, im Falle die eigentliche Strafgewalt, der Strafvollzug schon an die »Obrigkeit« übergegangen ist, es verachtet und mißhandelt zu sehen. Der Ausgleich besteht also in einem Anweis und Anrecht auf Grausamkeit. –
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In dieser Sphäre, im Obligationen-Rechte also, hat die moralische Begriffswelt »Schuld«, »Gewissen«, »Pflicht«, »Heiligkeit der Pflicht« ihren Entstehungsherd – ihr Anfang ist, wie der Anfang alles Großen auf Erden, gründlich und lange mit Blut begossen worden. Und dürfte man nicht hinzufügen, daß jene Welt im Grunde einen gewissen Geruch von Blut und Folter niemals wieder ganz eingebüßt habe? (selbst beim alten Kant nicht: der kategorische Imperativ riecht nach Grausamkeit...) Hier ebenfalls ist jene unheimliche und vielleicht unlösbar gewordne Ideen-Verhäkelung »Schuld und Leid« zuerst eingehäkelt[806] worden. Nochmals gefragt: inwiefern kann Leiden eine Ausgleichung von »Schulden« sein? Insofern Leiden-machen im höchsten Grade wohltat, insofern der Geschädigte für den Nachteil, hinzugerechnet die Unlust über den Nachteil, einen außerordentlichen Gegen–Genuß eintauschte: das Leiden-machen – ein eigentliches Fest, etwas, das wie gesagt um so höher im Preise stand, je mehr es dem Range und der gesellschaftlichen Stellung des Gläubigers widersprach. Dies vermutungsweise gesprochen: denn solchen unterirdischen Dingen ist schwer auf den Grund zu sehn, abgesehn davon, daß es peinlich ist; und wer hier den Begriff der »Rache« plump dazwischenwirft, hat sich den Einblick eher noch verdeckt und verdunkelt als leichter gemacht (– Rache selbst führt ja eben auf das gleiche Problem zurück: »wie kann Leiden-machen eine Genugtuung sein?«). Es widersteht, wie mir scheint, der Delikatesse, noch mehr der Tartüfferie zahmer Haustiere (will sagen moderner Menschen, will sagen uns), es sich in aller Kraft vorstellig zu machen, bis zu welchem Grade die Grausamkeit die große Festfreude der älteren Menschheit ausmacht, ja als Ingredienz fast jeder ihrer Freuden zugemischt ist; wie naiv andrerseits, wie unschuldig ihr Bedürfnis nach Grausamkeit auftritt, wie grundsätzlich gerade die »uninteressierte Bosheit« (oder, mit Spinoza zu reden, die sympathia malevolens) von ihr als normale Eigenschaft des Menschen angesetzt wird –: somit als etwas, zu dem das Gewissen herzhaft Ja sagt! Für ein tieferes Auge wäre vielleicht auch jetzt noch genug von dieser ältesten und gründlichsten Festfreude des Menschen wahrzunehmen; im »Jenseits von Gut und Böse«: II 651 ff. (früher schon in der »Morgenröte«: I 1026 f. 1063 f. 1086 f.) habe ich mit vorsichtigem Finger auf die immer wachsende Vergeistigung und »Vergöttlichung« der Grausamkeit hingezeigt, welche sich durch die ganze Geschichte der höheren Kultur hindurchzieht (und, in einem bedeutenden Sinne genommen, sie sogar ausmacht). Jedenfalls ist es noch nicht zu lange her, daß man sich fürstliche Hochzeiten und Volksfeste größten Stils ohne Hinrichtungen, Folterungen oder etwa ein Autodafé nicht zu denken wußte, insgleichen keinen vornehmen Haushalt ohne Wesen, an denen man unbedenklich seine Bosheit und grausame Neckerei auslassen konnte (– man erinnere sich etwa Don Quixotes am Hofe der Herzogin: wir lesen heute den ganzen Don Quixote mit einem bittren[807] Geschmack auf der Zunge, fast mit einer Tortur, und würden damit seinem Urheber und dessen Zeitgenossen sehr fremd, sehr dunkel sein – sie lasen ihn mit allerbestem Gewissen als das heiterste der Bücher, sie lachten sich an ihm fast zu Tode). Leiden-sehn tut wohl, Leiden-machen noch wohler – das ist ein harter Satz, aber ein alter mächtiger menschlich-allzumenschlicher Hauptsatz, den übrigens vielleicht auch schon die Affen unterschreiben würden: denn man erzählt, daß sie im Ausdenken von bizarren Grausamkeiten den Menschen bereits reichlich ankündigen und gleichsam »vorspielen«. Ohne Grausamkeit kein Fest: so lehrt es die älteste, längste Geschichte des Menschen – und auch an der Strafe ist so viel Festliches! –
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– Mit diesen Gedanken, nebenbei gesagt, bin ich durchaus nicht willens, unsren Pessimisten zu neuem Wasser auf ihre mißtönigen und knarrenden Mühlen des Lebensüberdrusses zu verhelfen; im Gegenteil soll ausdrücklich bezeugt sein, daß damals, als die Menschheit sich ihrer Grausamkeit noch nicht schämte, das Leben heiterer auf Erden war als jetzt, wo es Pessimisten gibt.
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