Denken wir aber gar an jene Jahrtausende vor der Geschichte des Menschen, so darf man unbedenklich urteilen, daß gerade durch die Strafe die Entwicklung des Schuldgefühls am kräftigsten aufgehalten worden ist – wenigstens in Hinsicht auf die Opfer, an denen sich die strafende Gewalt ausließ. Unterschätzen wir nämlich nicht, inwiefern der Verbrecher gerade durch den Anblick der gerichtlichen und vollziehenden Prozeduren selbst verhindert wird, seine Tat, die Art seiner Handlung an sich als verwerflich zu empfinden: denn er sieht genau die gleiche Art von Handlungen im Dienst der Gerechtigkeit verübt und dann gutgeheißen, mit gutem Gewissen verübt: also Spionage, Überlistung, Bestechung, Fallenstellen, die ganze kniffliche und durchtriebene[822] Polizisten- und Anklägerkunst, sodann das grundsätzliche, selbst nicht durch den Affekt entschuldigte Berauben, Überwältigen, Beschimpfen, Gefangennehmen, Foltern, Morden, wie es in den verschiednen Arten der Strafe sich ausprägt – alles somit von seinen Richtern keineswegs an sich verworfene und verurteilte Handlungen, sondern nur in einer gewissen Hinsicht und Nutzanwendung. Das »schlechte Gewissen«, diese unheimlichste und interessanteste Pflanze unsrer irdischen Vegetation, ist nicht auf diesem Boden gewachsen – in der Tat drückte sich im Bewußtsein der Richtenden, der Strafenden selbst die längste Zeit hindurch nichts davon aus, daß man mit einem »Schuldigen« zu tun habe. Sondern mit einem Schaden-Anstifter, mit einem unverantwortlichen Stück Verhängnis. Und der selber, über den nachher die Strafe, wiederum wie ein Stück Verhängnis, herfiel, hatte dabei keine andre »innere Pein«, als wie beim plötzlichen Eintreten von etwas Unberechnetem, eines schrecklichen Naturereignisses, eines herabstürzenden, zermalmenden Felsblocks, gegen den es keinen Kampf mehr gibt.

 

15

Dies kam einmal auf eine verfängliche Weise Spinoza zum Bewußtsein (zum Verdruß seiner Ausleger, welche sich ordentlich darum bemühen, ihn an dieser Stelle mißzuverstehn, zum Beispiel Kuno Fischer), als er eines Nachmittags, wer weiß, an was für einer Erinnerung sich reibend, der Frage nachhing, was eigentlich für ihn selbst von dem berühmten morsus conscientiae übriggeblieben sei – er, der Gut und Böse unter die menschlichen Einbildungen verwiesen und mit Ingrimm die Ehre seines »freien« Gottes gegen jene Lästerer verteidigt hatte, deren Behauptung dahin ging, Gott wirke alles sub ratione boni (»das aber hieße Gott dem Schicksale unterwerfen und wäre fürwahr die größte aller Ungereimtheiten« –). Die Welt war für Spinoza wieder in jene Unschuld zurückgetreten, in der sie vor der Erfindung des schlechten Gewissens dalag: was war damit aus dem morsus conscientiae geworden? »Der Gegensatz des gaudium«, sagte er sich endlich – »eine Traurigkeit, begleitet von der Vorstellung einer vergangnen Sache, die gegen alles Erwarten ausgefallen ist.« Eth. III propos. XVIII schol. I. II. [823] Nicht anders als Spinoza haben die von der Strafe ereilten Übel-Anstifter jahrtausendelang in betreff ihres »Vergehens« empfunden: »hier ist etwas unvermutet schiefgegangen«, nicht: »das hätte ich nicht tun sollen« –, sie unterwarfen sich der Strafe, wie man sich einer Krankheit oder einem Unglücke oder dem Tode unterwirft, mit jenem beherzten Fatalismus ohne Revolte, durch den zum Beispiel heute noch die Russen in der Handhabung des Lebens gegen uns Westländer im Vorteil sind. Wenn es damals eine Kritik der Tat gab, so war es die Klugheit, die an der Tat Kritik übte: ohne Frage müssen wir die eigentliche Wirkung der Strafe vor allem in einer Verschärfung der Klugheit suchen, in einer Verlängerung des Gedächtnisses, in einem Willen, fürderhin vorsichtiger, mißtrauischer, heimlicher zu Werke zu gehn, in der Einsicht, daß man für vieles ein für allemal zu schwach sei, in einer Art Verbesserung der Selbstbeurteilung. Das, was durch die Strafe im großen erreicht werden kann, bei Mensch und Tier, ist die Vermehrung der Furcht, die Verschärfung der Klugheit, die Bemeisterung der Begierden: damit zähmt die Strafe den Menschen, aber sie macht ihn nicht »besser« – man dürfte mit mehr Recht noch das Gegenteil behaupten. (»Schaden macht klug«, sagt das Volk: soweit er klug macht, macht er auch schlecht. Glücklicherweise macht er oft genug dumm.)

 

16

An dieser Stelle ist es nun nicht mehr zu umgehn, meiner eignen Hypothese über den Ursprung des »schlechten Gewissens« zu einem ersten vorläufigen Ausdrucke zu verhelfen: sie ist nicht leicht zu Gehör zu bringen und will lange bedacht, bewacht und beschlafen sein. Ich nehme das schlechte Gewissen als die tiefe Erkrankung, welcher der Mensch unter dem Druck jener gründlichsten aller Veränderungen verfallen mußte, die er überhaupt erlebt hat – jener Veränderung, als er sich endgültig in den Bann der Gesellschaft und des Friedens eingeschlossen fand. Nicht anders als es den Wassertieren ergangen sein muß, als sie gezwungen wurden, entweder Landtiere zu werden oder zugrunde zu gehn, so ging es diesen der Wildnis, dem Kriege, dem Herumschweifen, dem Abenteuer glücklich angepaßten Halbtieren – mit einem Male waren alle ihre Instinkte entwertet und »ausgehängt«.[824] Sie sollten nunmehr auf den Füßen gehn und »sich selber tragen«, wo sie bisher vom Wasser getragen wurden: eine entsetzliche Schwere lag auf ihnen. Zu den einfachsten Verrichtungen fühlten sie sich ungelenk, sie hatten für diese neue unbekannte Welt ihre alten Führer nicht mehr, die regulierenden unbewußt-sicherführenden Triebe – sie waren auf Denken, Schließen, Berechnen, Kombinieren von Ursachen und Wirkungen reduziert, diese Unglücklichen, auf ihr »Bewußtsein«, auf ihr ärmlichstes und fehlgreifendstes Organ! Ich glaube, daß niemals auf Erden ein solches Elends-Gefühl, ein solches bleiernes Mißbehagen dagewesen ist – und dabei hatten jene alten Instinkte nicht mit einem Male aufgehört, ihre Forderungen zu stellen! Nur war es schwer und selten möglich, ihnen zu Willen zu sein: in der Hauptsache mußten sie sich neue und gleichsam unterirdische Befriedigungen suchen. Alle Instinkte, welche sich nicht nach außen entladen, wenden sich nach innen – dies ist das, was ich die Verinnerlichung des Menschen nenne: damit wächst erst das an den Menschen heran, was man später seine »Seele« nennt. Die ganze innere Welt, ursprünglich dünn wie zwischen zwei Häute eingespannt, ist in dem Maße auseinander- und aufgegangen, hat Tiefe, Breite, Höhe bekommen, als die Entladung des Menschen nach außen gehemmt worden ist. Jene furchtbaren Bollwerke, mit denen sich die staatliche Organisation gegen die alten Instinkte der Freiheit schützte – die Strafen gehören vor allem zu diesen Bollwerken –, brachten zuwege, daß alle jene Instinkte des wilden freien schweifenden Menschen sich rückwärts, sich gegen den Menschen selbst wandten. Die Feindschaft, die Grausamkeit, die Lust an der Verfolgung, am Überfall, am Wechsel, an der Zerstörung – alles das gegen die Inhaber solcher Instinkte sich wendend: das ist der Ursprung des »schlechten Gewissens«. Der Mensch, der sich, aus Mangel an äußeren Feinden und Widerständen, eingezwängt in eine drückende Enge und Regelmäßigkeit der Sitte, ungeduldig selbst zerriß, verfolgte, annagte, aufstörte, mißhandelte, dies an den Gitterstangen seines Käfigs sich wundstoßende Tier, das man »zähmen« will, dieser Entbehrende und vom Heimweh der Wüste Verzehrte, der aus sich selbst ein Abenteuer, eine Folterstätte, eine unsichere und gefährliche Wildnis schaffen mußte – dieser Narr, dieser sehnsüchtige und verzweifelte Gefangne wurde der Erfinder des »schlechten Gewissens«. Mit ihm aber war die[825] größte und unheimlichste Erkrankung eingeleitet, von welcher die Menschheit bis heute nicht genesen ist, das Leiden des Menschen am Menschen, an sich: als die Folge einer gewaltsamen Abtrennung von der tierischen Vergangenheit, eines Sprunges und Sturzes gleichsam in neue Lagen und Daseins-Bedingungen, einer Kriegserklärung gegen die alten Instinkte, auf denen bis dahin seine Kraft, Lust und Furchtbarkeit beruhte. Fügen wir sofort hinzu, daß andrerseits mit der Tatsache einer gegen sich selbst gekehrten, gegen sich selbst Partei nehmenden Tierseele auf Erden etwas so Neues, Tiefes, Unerhörtes, Rätselhaftes, Widerspruchsvolles und Zukunftsvolles gegeben war, daß der Aspekt der Erde sich damit wesentlich veränderte. In der Tat, es brauchte göttlicher Zuschauer, um das Schauspiel zu würdigen, das damit anfing und dessen Ende durchaus noch nicht abzusehn ist – ein Schauspiel zu fein, zu wundervoll, zu paradox, als daß es sich sinnlos-unvermerkt auf irgendeinem lächerlichen Gestirn abspielen dürfte! Der Mensch zählt seitdem mit unter den unerwartetsten und aufregendsten Glückswürfen, die das »große Kind« des Heraklit, heiße es Zeus oder Zufall, spielt – er erweckt für sich ein Interesse, eine Spannung, eine Hoffnung, beinahe eine Gewißheit, als ob mit ihm sich etwas ankündige, etwas vorbereite, als ob der Mensch kein Ziel, sondern nur ein Weg, ein Zwischenfall, eine Brücke, ein großes Versprechen sei...

 

17

Zur Voraussetzung dieser Hypothese über den Ursprung des schlechten Gewissens gehört erstens, daß jene Veränderung keine allmähliche, keine freiwillige war und sich nicht als ein organisches Hineinwachsen in neue Bedingungen darstellte, sondern als ein Bruch, ein Sprung, ein Zwang, ein unabweisbares Verhängnis, gegen das es keinen Kampf und nicht einmal ein Ressentiment gab. Zweitens aber, daß die Einfügung einer bisher ungehemmten und ungestalteten Bevölkerung in eine feste Form, wie sie mit einem Gewaltakt ihren Anfang nahm, nur mit lauter Gewaltakten zu Ende geführt wurde – daß der älteste »Staat« demgemäß als eine furchtbare Tyrannei, als eine zerdrückende und rücksichtslose Maschinerie auftrat und fortarbeitete, bis ein solcher Rohstoff von Volk und Halbtier endlich nicht nur durchgeknetet[826] und gefügig, sondern auch geformt war. Ich gebrauchte das Wort »Staat«: es versteht sich von selbst, wer damit gemeint ist – irgendein Rudel blonder Raubtiere, eine Eroberer- und Herren-Rasse, welche, kriegerisch organisiert und mit der Kraft, zu organisieren, unbedenklich ihre furchtbaren Tatzen auf eine der Zahl nach vielleicht ungeheuer überlegene, aber noch gestaltlose, noch schweifende Bevölkerung legt. Dergestalt beginnt ja der »Staat« auf Erden: ich denke, jene Schwärmerei ist abgetan, welche ihn mit einem »Vertrage« beginnen ließ. Wer befehlen kann, wer von Natur »Herr« ist, wer gewalttätig in Werk und Gebärde auftritt – was hat der mit Verträgen zu schaffen! Mit solchen Wesen rechnet man nicht, sie kommen wie das Schicksal, ohne Grund, Vernunft, Rücksicht, Vorwand, sie sind da, wie der Blitz da ist, zu furchtbar, zu plötzlich, zu überzeugend, zu »anders«, um selbst auch nur gehaßt zu werden. Ihr Werk ist ein instinktives Formen-schaffen, Formen-aufdrücken, es sind die unfreiwilligsten, unbewußtesten Künstler, die es gibt – in Kürze steht etwas Neues da, wo sie erscheinen, ein Herrschafts-Gebilde, das lebt, in dem Teile und Funktionen abgegrenzt und bezüglich gemacht sind, in dem nichts überhaupt Platz findet, dem nicht erst ein »Sinn« in Hinsicht auf das Ganze eingelegt ist.