Sie wissen nicht, was Schuld, was Verantwortlichkeit, was Rücksicht ist, diese geborenen Organisatoren; in ihnen waltet jener furchtbare Künstler-Egoismus, der wie Erz blickt und sich im »Werke«, wie die Mutter in ihrem Kinde, in alle Ewigkeit voraus gerechtfertigt weiß. Sie sind es nicht, bei denen das »schlechte Gewissen« gewachsen ist, das versteht sich von vornherein – aber es würde nicht ohne sie gewachsen sein, dieses häßliche Gewächs, es würde fehlen, wenn nicht unter dem Druck ihrer Hammerschläge, ihrer Künstler-Gewaltsamkeit ein ungeheures Quantum Freiheit aus der Welt, mindestens aus der Sichtbarkeit geschafft und gleichsam latent gemacht worden wäre. Dieser gewaltsam latent gemachte Instinkt der Freiheit – wir begriffen es schon –, dieser zurückgedrängte, zurückgetretene, ins Innere eingekerkerte und zuletzt nur an sich selbst noch sich entladende und auslassende Instinkt der Freiheit: das, nur das ist in seinem Anbeginn das schlechte Gewissen.[827]
18
Man hüte sich, von diesem ganzen Phänomen deshalb schon gering zu denken, weil es von vornherein häßlich und schmerzhaft ist. Im Grunde ist es ja dieselbe aktive Kraft, die in jenen Gewalt-Künstlern und Organisatoren großartiger am Werke ist und Staaten baut, welche hier, innerlich, kleiner, kleinlicher, in der Richtung nach rückwärts, im »Labyrinth der Brust«, um mit Goethe zu reden, sich das schlechte Gewissenschafft und negative Ideale baut, eben jener Instinkt der Freiheit (in meiner Sprache geredet: der Wille zur Macht): nur daß der Stoff, an dem sich die formbildende und vergewaltigende Natur dieser Kraft ausläßt, hier eben der Mensch selbst, sein ganzes tierisches altes Selbst ist – und nicht, wie in jenem größeren und augenfälligeren Phänomen, der andre Mensch, die andren Menschen. Diese heimliche Selbst-Vergewaltigung, diese Künstler-Grausamkeit, diese Lust, sich selbst als einem schweren widerstrebenden leidenden Stoffe eine Form zu geben, einen Willen, eine Kritik, einen Widerspruch, eine Verachtung, ein Nein einzubrennen, diese unheimliche und entsetzlich-lustvolle Arbeit einer mit sich selbst willig-zwiespältigen Seele, welche sich leiden macht, aus Lust am Leiden-machen, dieses ganze aktivische »schlechte Gewissen« hat zuletzt – man errät es schon – als der eigentliche Mutterschoß idealer und imaginativer Ereignisse auch eine Fülle von neuer befremdlicher Schönheit und Bejahung ans Licht gebracht und vielleicht überhaupt erst die Schönheit... Was wäre denn »schön«, wenn nicht erst der Widerspruch sich selbst zum Bewußtsein gekommen wäre, wenn nicht erst das Häßliche zu sich selbst gesagt hätte: »ich bin häßlich«?... Zum mindesten wird nach diesem Winke das Rätsel weniger rätselhaft sein, inwiefern in widersprüchlichen Begriffen, wie Selbstlosigkeit, Selbstverleugnung, Selbstopferung ein Ideal, eine Schönheit angedeutet sein kann; und eins weiß man hinfort – ich zweifle nicht daran – welcher Art nämlich von Anfang an die Lust ist, die der Selbstlose, der Sich-selbst-Verleugnende, Sich-selber-Opfernde empfindet: diese Lust gehört zur Grausamkeit. – Soviel vorläufig zur Herkunft des »Unegoistischen« als eines moralischen Wertes und zur Absteckung des Bodens, aus dem dieser Wert gewachsen ist: erst das schlechte Gewissen, erst der Wille zur[828] Selbstmißhandlung gibt die Voraussetzung ab für den Wert des Unegoistischen. –
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Es ist eine Krankheit, das schlechte Gewissen, das unterliegt keinem Zweifel, aber eine Krankheit, wie die Schwangerschaft eine Krankheit ist. Suchen wir die Bedingungen auf, unter denen diese Krankheit auf ihren furchtbarsten und sublimsten Gipfel gekommen ist – wir werden sehn, was damit eigentlich erst seinen Eintritt in die Welt gemacht hat. Dazu aber bedarf es eines langen Atems – und zunächst müssen wir noch einmal zu einem früheren Gesichtspunkte zurück. Das privatrechtliche Verhältnis des Schuldners zu seinem Gläubiger, von dem des längeren schon die Rede war, ist noch einmal, und zwar in einer historisch überaus merkwürdigen und bedenklichen Weise, in ein Verhältnis hineininterpretiert worden, worin es uns modernen Menschen vielleicht am unverständlichsten ist: nämlich in das Verhältnis der Gegenwärtigen zu ihren Vorfahren. Innerhalb der ursprünglichen Geschlechtsgenossenschaft – wir reden von Urzeiten – erkennt jedesmal die lebende Generation gegen die frühere und insonderheit gegen die früheste, Geschlecht-begründende eine juristische Verpflichtung an (und keineswegs eine bloße Gefühls-Verbindlichkeit: man dürfte diese letztere sogar nicht ohne Grund für die längste Dauer des menschlichen Geschlechts überhaupt in Abrede stellen). Hier herrscht die Überzeugung, daß das Geschlecht durchaus nur durch die Opfer und Leistungen der Vorfahren besteht – und daß man ihnen diese durch Opfer und Leistungen zurückzuzahlen hat: man erkennt somit eine Schuld an, die dadurch noch beständig anwächst, daß diese Ahnen in ihrer Fortexistenz als mächtige Geister nicht aufhören, dem Geschlechte neue Vorteile und Vorschüsse seitens ihrer Kraft zu gewähren. Umsonst etwa? Aber es gibt kein »Umsonst« für jene rohen und »seelenarmen« Zeitalter. Was kann man ihnen zurückgeben? Opfer (anfänglich zur Nahrung, im gröblichsten Verstande), Feste, Kapellen, Ehrenbezeigungen, vor allem Gehorsam – denn alle Bräuche sind, als Werke der Vorfahren, auch deren Satzungen und Befehle –: gibt man ihnen je genug? Dieser Verdacht bleibt übrig und wächst: von Zeit zu Zeit erzwingt er eine große Ablösung in Bausch und Bogen, irgend[829] etwas Ungeheures von Gegenzahlung an den »Gläubiger« (das berüchtigte Erstlingsopfer zum Beispiel, Blut, Menschenblut in jedem Falle). Die Furcht vor dem Ahnherrn und seiner Macht, das Bewußtsein von Schulden gegen ihn nimmt nach dieser Art von Logik notwendig genau in dem Maße zu, in dem die Macht des Geschlechts selbst zunimmt, in dem das Geschlecht selbst immer siegreicher, unabhängiger, geehrter, gefürchteter dasteht. Nicht etwa umgekehrt! Jeder Schritt zur Verkümmerung des Geschlechts, alle elenden Zufälle, alle Anzeichen von Entartung, von heraufkommender Auflösung vermindern vielmehr immer auch die Furcht vor dem Geiste seines Begründers und geben eine immer geringere Vorstellung von seiner Klugheit, Vorsorglichkeit und Macht-Gegenwart. Denkt man sich diese rohe Art Logik bis an ihr Ende gelangt: so müssen schließlich die Ahnherrn der mächtigsten Geschlechter durch die Phantasie der wachsenden Furcht selbst ins Ungeheure gewachsen und in das Dunkel einer göttlichen Unheimlichkeit und Unvorstellbarkeit zurückgeschoben worden sein – der Ahnherr wird zuletzt notwendig in einen Gott transfiguriert. Vielleicht ist hier selbst der Ursprung der Götter, ein Ursprung also aus der Furcht!... Und wem es nötig scheinen sollte hinzuzufügen: »aber auch aus der Pietät!« dürfte schwerlich damit für jene längste Zeit des Menschengeschlechts recht behalten, für seine Urzeit. Um so mehr freilich für die mittlere Zeit, in der die vornehmen Geschlechter sich herausbilden – als welche in der Tat ihren Urhebern, den Ahnherren (Heroen, Göttern) alle die Eigenschaften mit Zins zurückgegeben haben, die inzwischen in ihnen selbst offenbar geworden sind, die vornehmen Eigenschaften. Wir werden auf die Veradligung und Veredelung der Götter (die freilich durchaus nicht deren »Heiligung« ist) später noch einen Blick werfen: führen wir jetzt nur den Gang dieser ganzen Schuldbewußtseins-Entwicklung vorläufig zu Ende.
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Das Bewußtsein, Schulden gegen die Gottheit zu haben, ist, wie die Geschichte lehrt, auch nach dem Niedergang der blutverwandtschaftlichen Organisationsform der »Gemeinschaft« keineswegs zum Abschluß gekommen; die Menschheit hat, in gleicher Weise, wie sie die[830] Begriffe »gut und schlecht« von dem Geschlechts-Adel (samt dessen psychologischem Grundhange, Rangordnungen anzusetzen) geerbt hat, mit der Erbschaft der Geschlechts- und Stammgottheiten auch die des Drucks von noch unbezahlten Schulden und des Verlangens nach Ablösung derselben hinzubekommen. (Den Übergang machen jene breiten Sklaven- und Hörigen-Bevölkerungen, welche sich an den Götter-Kultus ihrer Herren, sei es durch Zwang, sei es durch Unterwürfigkeit und mimicry, angepaßt haben: von ihnen aus fließt dann diese Erbschaft nach allen Seiten über.) Das Schuldgefühl gegen die Gottheit hat mehrere Jahrtausende nicht aufgehört zu wachsen, und zwar immerfort im gleichen Verhältnisse, wie der Gottesbegriff und das Gottesgefühl auf Erden gewachsen und in die Höhe getragen worden ist. (Die ganze Geschichte des ethnischen Kämpfens, Siegens, Sich-versöhnens, Sich-verschmelzens, alles was der endgültigen Rangordnung aller Volks-Elemente in jeder großen Rassen-Synthesis vorangeht, spiegelt sich in dem Genealogien-Wirrwarr ihrer Götter, in den Sagen von deren Kämpfen, Siegen und Versöhnungen ab; der Fortgang zu Universal-Reichen ist immer auch der Fortgang zu Universal-Gottheiten, der Despotismus mit seiner Überwältigung des unabhängigen Adels bahnt immer auch irgendwelchem Monotheismus den Weg.) Die Heraufkunft des christlichen Gottes, als des Maximal-Gottes, der bisher erreicht worden ist, hat deshalb auch das Maximum des Schuldgefühls auf Erden zur Erscheinung gebracht. Angenommen, daß wir nachgerade in die umgekehrte Bewegung eingetreten sind, so dürfte man mit keiner kleinen Wahrscheinlichkeit aus dem unaufhaltsamen Niedergang des Glaubens an den christlichen Gott ableiten, daß es jetzt bereits auch schon einen erheblichen Niedergang des menschlichen Schuldbewußtseins gäbe; ja die Aussicht ist nicht abzuweisen, daß der vollkommne und endgültige Sieg des Atheismus die Menschheit von diesem ganzen Gefühl, Schulden gegen ihren Anfang, ihre causa prima zu haben, lösen dürfte. Atheismus und eine Art zweiter Unschuld gehören zueinander. –[831]
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Dies vorläufig im kurzen und groben über den Zusammenhang der Begriffe »Schuld«, »Pflicht« mit religiösen Voraussetzungen: ich habe[831] absichtlich die eigentliche Moralisierung dieser Begriffe (die Zurückschiebung derselben ins Gewissen, noch bestimmter, die Verwicklung des schlechten Gewissens mit dem Gottesbegriffe) bisher beiseite gelassen und am Schluß des vorigen Abschnittes sogar geredet, wie als ob es diese Moralisierung gar nicht gäbe, folglich, wie als ob es mit jenen Begriffen nunmehr notwendig zu Ende ginge, nachdem deren Voraussetzung gefallen ist, der Glaube an unsern »Gläubiger«, an Gott. Der Tatbestand weicht davon in einer furchtbaren Weise ab. Mit der Moralisierung der Begriffe Schuld und Pflicht, mit ihrer Zurückschiebung ins schlechte Gewissen ist ganz eigentlich der Versuch gegeben, die Richtung der eben beschriebenen Entwicklung umzukehren, mindestens ihre Bewegung stillzustellen: jetzt soll gerade die Aussicht auf eine endgültige Ablösung ein für allemal sich pessimistisch zuschließen, jetzt soll der Blick trostlos vor einer ehernen Unmöglichkeit abprallen, zurückprallen, jetzt sollen jene Begriffe »Schuld« und »Pflicht« sich rückwärts wen den – gegen wen denn? Man kann nicht zweifeln: zunächst gegen den »Schuldner«, in dem nunmehr das schlechte Gewissen sich dermaßen festsetzt, einfrißt, ausbreitet und polypenhaft in jede Breite und Tiefe wächst, bis endlich mit der Unlösbarkeit der Schuld auch die Unlösbarkeit der Buße, der Gedanke ihrer Unabzahlbarkeit (der »ewigen Strafe«) konzipiert ist –; endlich aber sogar gegen den »Gläubiger«, denke man dabei nun an die causa prima des Menschen, an den Anfang des menschlichen Geschlechts, an seinen Ahnherrn, der nunmehr mit einem Fluche behaftet wird (»Adam«, »Erbsünde«, »Unfreiheit des Willens«), oder an die Natur, aus deren Schoß der Mensch entsteht und in die nunmehr das böse Prinzip hineingelegt wird (»Verteufelung der Natur«), oder an das Dasein überhaupt, das als unwert an sich übrigbleibt (nihilistische Abkehr von ihm, Verlangen ins Nichts oder Verlangen in seinen »Gegensatz«, in ein Anders-sein, Buddhismus und Verwandtes) – bis wir mit einem Male vor dem paradoxen und entsetzlichen Auskunftsmittel stehn, an dem die gemarterte Menschheit eine zeitweilige Erleichterung gefunden hat, jenem Geniestreich des Christentums: Gott selbst sich für die Schuld des Menschen opfernd, Gott selbst sich an sich selbst bezahlt machend, Gott als der einzige, der vom Menschen ablösen kann, was für den Menschen selbst unablösbar geworden ist –[832] der Gläubiger sich für seinen Schuldner opfernd, aus Liebe (sollte man's glauben? –), aus Liebe zu seinem Schuldner!...
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Man wird bereits erraten haben, was eigentlich mit dem allen und unter dem allen geschehen ist: jener Wille zur Selbstpeinigung, jene zurückgetretene Grausamkeit des innerlich gemachten, in sich selbst zurückgescheuchten Tiermenschen, des zum Zweck der Zähmung in den »Staat« Eingesperrten, der das schlechte Gewissen erfunden hat, um sich wehzutun, nachdem der natürlichere Ausweg dieses Weh-tun-wollens verstopft war – dieser Mensch des schlechten Gewissens hat sich der religiösen Voraussetzung bemächtigt, um seine Selbstmarterung bis zu ihrer schauerlichsten Härte und Schärfe zu treiben.
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