(Auf diesen Gesichtspunkt werde ich ein andres Mal zurückkommen, im Zusammenhang mit noch delikateren Problemen der bisher so unberührten, so unaufgeschlossnen Physiologie der Ästhetik.)

 

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Ein gewisser Asketismus, wir sahen es, eine harte und heitre Entsagsamkeit besten Willens gehört zu den günstigen Bedingungen höchster Geistigkeit, insgleichen auch zu deren natürlichsten Folgen: so wird es von vornherein nicht wundernehmen, wenn das asketische Ideal gerade von den Philosophen nie ohne einige Voreingenommenheit behandelt worden ist. Bei einer ernsthaften historischen Nachrechnung erweist sich sogar das Band zwischen asketischem Ideal und Philosophie als noch viel enger und strenger. Man könnte sagen, daß erst am Gängelbande dieses Ideals die Philosophie überhaupt gelernt[853] habe, ihre ersten Schritte und Schrittchen auf Erden zu machen – ach, noch so ungeschickt, ach, mit noch so verdrossnen Mienen, ach, so bereit, umzufallen und auf dem Bauch zu liegen, dieser kleine schüchterne Tapps und Zärtling mit krummen Beinen! Es ist der Philosophie anfangs ergangen wie allen guten Dingen – sie hatten lange keinen Mut zu sich selber, sie sahen sich immer um, ob ihnen niemand zu Hilfe kommen wolle, mehr noch, sie fürchteten sich vor allen, die ihnen zusahn. Man rechne sich die einzelnen Triebe und Tugenden des Philosophen der Reihe nach vor – seinen anzweifelnden Trieb, seinen verneinenden Trieb, seinen abwartenden (»ephektischen«) Trieb, seinen analytischen Trieb, seinen forschenden, suchenden, wagenden Trieb, seinen vergleichenden, ausgleichenden Trieb, seinen Willen zu Neutralität und Objektivität, seinen Willen zu jedem »sine ira et studio«–: hat man wohl schon begriffen, daß sie allesamt die längste Zeit den ersten Forderungen der Moral und des Gewissens entgegengingen? (gar nicht zu reden von der Vernunft überhaupt, welche noch Luther »Fraw Klüglin die kluge Hur« zu nennen liebte). Daß ein Philosoph, falls er sich zum Bewußtsein gekommen wäre, sich geradezu als das leibhafte »nitimur in vetitum« hätte fühlen müssen – und sich folglich hütete, »sich zu fühlen«, sich zum Bewußtsein zu kommen?... Es steht, wie gesagt, nicht anders mit allen guten Dingen, auf die wir heute stolz sind; selbst noch mit dem Maße der alten Griechen gemessen, nimmt sich unser ganzes modernes Sein, soweit es nicht Schwäche, sondern Macht und Machtbewußtsein ist, wie lauter Hybris und Gottlosigkeit aus: denn gerade die umgekehrten Dinge, als die sind, welche wir heute verehren, haben die längste Zeit das Gewissen auf ihrer Seite und Gott zu ihrem Wächter gehabt. Hybris ist heute unsre ganze Stellung zur Natur, unsre Natur-Vergewaltigung mit Hilfe der Maschinen und der so unbedenklichen Techniker- und Ingenieur-Erfindsamkeit; Hybris ist unsre Stellung zu Gott, will sagen zu irgendeiner angeblichen Zweck- und Sittlichkeits-Spinne hinter dem großen Fangnetz-Gewebe der Ursächlichkeit- wir dürften, wie Karl der Kühne im Kampfe mit Ludwig dem Elften, sagen »je combats l'universelle araignée« –; Hybris ist unsre Stellung zu uns, denn wir experimentieren mit uns, wie wir es uns mit keinem Tiere erlauben würden, und schlitzen uns vergnügt und neugierig die Seele bei lebendigem Leibe auf: was liegt uns noch am »Heil« der Seele![854] Hinterdrein heilen wir uns selber: Kranksein ist lehrreich, wir zweifeln nicht daran, lehrreicher noch als Gesundsein – die Krankmacher scheinen uns heute nötiger selbst als irgendwelche Medizinmänner und »Heilande«. Wir vergewaltigen uns jetzt selbst, es ist kein Zweifel, wir Nußknacker der Seele, wir Fragenden und Fragwürdigen, wie als ob Leben nichts andres sei, als Nüsseknacken; ebendamit müssen wir notwendig täglich immer noch fragwürdiger, würdiger zu fragen werden, ebendamit vielleicht auch würdiger – zu leben?... Alle guten Dinge waren ehemals schlimme Dinge; aus jeder Erbsünde ist eine Erbtugend geworden. Die Ehe zum Beispiel schien lange eine Versündigung am Rechte der Gemeinde; man hat einst Buße dafür gezahlt, so unbescheiden zu sein und sich ein Weib für sich anzumaßen (dahin gehört zum Beispiel das jus primae noctis, heute noch in Kambodscha das Vorrecht der Priester, dieser Bewahrer »alter guter Sitten«). Die sanften, wohlwollenden, nachgiebigen, mitleidigen Gefühle – nachgerade so hoch im Werte, daß sie fast »die Werte an sich« sind – hatten die längste Zeit gerade die Selbstverachtung gegen sich: man schämte sich der Milde, wie man sich heute der Härte schämt (vgl. »Jenseits von Gut und Böse«: II 730 f.). Die Unterwerfung unter das Recht: – o mit was für Gewissens-Widerstande haben die vornehmen Geschlechter überall auf Erden ihrerseits Verzicht auf vendetta geleistet und dem Recht über sich Gewalt eingeräumt! Das »Recht« war lange ein vetitum, ein Frevel, eine Neuerung, es trat mit Gewalt auf, als Gewalt, der man sich nur mit Scham vor sich selber fügte. Jeder kleinste Schritt auf der Erde ist ehedem mit geistigen und körperlichen Martern erstritten worden: dieser ganze Gesichtspunkt, »daß nicht nur das Vorwärtsschreiten, nein! das Schreiten, die Bewegung, die Veränderung ihre unzähligen Märtyrer nötig gehabt hat«, klingt gerade heute uns so fremd – ich habe ihn in der »Morgenröte« (I 1026 f.) ans Licht gestellt. »Nichts ist teurer erkauft«, heißt es daselbst (ebd. 1027), »als das wenige von menschlicher Vernunft und vom Gefühle der Freiheit, was jetzt unsern Stolz ausmacht. Dieser Stolz aber ist es, dessentwegen es uns jetzt fast unmöglich wird, mit jenen ungeheuren Zeitstrecken der ›Sittlichkeit der Sitte‹ zu empfinden, welche der ›Weltgeschichte‹ vorausliegen, als die wirkliche und entscheidende Hauptgeschichte, welche den Charakter der Menschheit festgestellt hat: wo das Leiden als Tugend, die[855] Grausamkeit als Tugend, die Verstellung als Tugend, die Rache als Tugend, die Verleugnung der Vernunft als Tugend, dagegen das Wohlbefinden als Gefahr, die Wißbegierde als Gefahr, der Friede als Gefahr, das Mitleiden als Gefahr, das Bemitleidetwerden als Schimpf, die Arbeit als Schimpf, der Wahnsinn als Göttlichkeit, die Veränderung als das Unsittliche und Verderbenschwangere an sich überall in Geltung war!« –

 

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In demselben Buche (I 1042 f.) ist auseinandergesetzt, in welcher Schätzung, unter welchem Druck von Schätzung das älteste Geschlecht kontemplativer Menschen zu leben hatte – genau so weit verachtet, als es nicht gefürchtet wurde! Die Kontemplation ist in vermummter Gestalt, in einem zweideutigen Ansehn, mit einem bösen Herzen und oft mit einem geängstigten Kopfe zuerst auf der Erde erschienen: daran ist kein Zweifel. Das Inaktive, Brütende, Unkriegerische in den Instinkten kontemplativer Menschen legte lange ein tiefes Mißtrauen um sie herum: dagegen gab es kein andres Mittel als entschieden Furcht vor sich erwecken. Und darauf haben sich zum Beispiel die alten Brahmanen verstanden! Die ältesten Philosophen wußten ihrem Dasein und Erscheinen einen Sinn, einen Halt und Hintergrund zu geben, auf den hin man sie fürchten lernte: genauer erwogen, aus einem noch fundamentaleren Bedürfnisse heraus, nämlich um vor sich selbst Furcht und Ehrfurcht zu gewinnen. Denn sie fanden in sich alle Werturteile gegen sich gekehrt, sie hatten gegen »den Philosophen in sich« jede Art Verdacht und Widerstand niederzukämpfen. Dies taten sie, als Menschen furchtbarer Zeitalter, mit furchtbaren Mitteln: die Grausamkeit gegen sich, die erfinderische Selbstkasteiung – das war das Hauptmittel dieser machtdurstigen Einsiedler und Gedanken-Neuerer, welche es nötig hatten, in sich selbst erst die Götter und das Herkömmliche zu vergewaltigen, um selbst an ihre Neuerung glauben zu können. Ich erinnere an die berühmte Geschichte des Königs Viçvamitra, der aus tausendjährigen Selbstmarterungen ein solches Machtgefühl und Zutrauen zu sich gewann, daß er es unternahm, einen neuen Himmel zu bauen: das unheimliche Symbol der ältesten und jüngsten Philosophen-Geschichte auf Erden – jeder, der irgendwann einmal einen »neuen[856] Himmel« gebaut hat, fand die Macht dazu erst in der eignen Hölle... Drücken wir den ganzen Tatbestand in kurze Formeln zusammen: der philosophische Geist hat sich zunächst immer in die früher festgestellten Typen des kontemplativen Menschen verkleiden und verpuppen müssen, als Priester, Zauberer, Wahrsager, überhaupt als religiöser Mensch, um in irgendeinem Maße auch nur möglich zu sein: das asketische Ideal hat lange Zeit dem Philosophen als Erscheinungsform, als Existenz-Voraussetzung gedient – er mußte es darstellen, um Philosoph sein zu können, er mußte an dasselbe glauben, um es darstellen zu können. Die eigentümlich weltverneinende, lebensfeindliche, sinnenungläubige, entsittlichte Abseits-Haltung der Philosophen, welche bis auf die neueste Zeit festgehalten worden ist und damit beinahe als Philosophen-Attitüde an sich Geltung gewonnen hat – sie ist vor allem eine Folge des Notstandes von Bedingungen, unter denen Philosophie überhaupt entstand und bestand: insofern nämlich die längste Zeit Philosophie auf Erden gar nicht möglich gewesen wäre ohne eine asketische Hülle und Einkleidung, ohne ein asketisches Selbst-Mißverständnis. Anschaulich und augenscheinlich ausgedrückt: der asketische Priester hat bis auf die neueste Zeit die widrige und düstere Raupenform abgegeben, unter der allein die Philosophie leben durfte und herumschlich... Hat sich das wirklich verändert? Ist das bunte und gefährliche Flügeltier, jener »Geist«, den diese Raupe in sich barg, wirklich, dank einer sonnigeren, wärmeren, aufgehellteren Welt, zuletzt doch noch entkuttet und ins Licht hinausgelassen worden? Ist heute schon genug Stolz, Wagnis, Tapferkeit, Selbstgewißheit, Wille des Geistes, Wille zur Verantwortlichkeit, Freiheit des Willens vorhanden, daß wirklich nunmehr auf Erden »der Philosoph« – möglich ist?...[857]

 

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Jetzt erst, nachdem wir den asketischen Priester in Sicht bekommen haben, rücken wir unsrem Probleme: was bedeutet das asketische Ideal? ernsthaft auf den Leib – jetzt erst wird es »Ernst«: wir haben nunmehr den eigentlichen Repräsentanten des Ernstes überhaupt uns gegenüber. »Was bedeutet aller Ernst?« – diese noch grundsätzlichere Frage legt sich vielleicht hier schon auf unsre Lippen: eine Frage für[857] Physiologen, wie billig, an der wir aber einstweilen noch vorüberschlüpfen. Der asketische Priester hat in jenem Ideale nicht nur seinen Glauben, sondern auch seinen Willen, seine Macht, sein Interesse. Sein Recht zum Dasein steht und fällt mit jenem Ideale: was wunder, daß wir hier auf einen furchtbaren Gegner stoßen, gesetzt nämlich, daß wir die Gegner jenes Ideales wären? einen solchen, der um seine Existenz gegen die Leugner jenes Ideales kämpft?... Andrerseits ist es von vornherein nicht wahrscheinlich, daß eine dergestalt interessierte Stellung zu unsrem Probleme diesem sonderlich zunutze kommen wird; der asketische Priester wird schwerlich selbst nur den glücklichsten Verteidiger seines Ideals abgeben, aus dem gleichen Grunde, aus dem es einem Weibe zu mißlingen pflegt, wenn es »das Weib an sich« verteidigen will – geschweige denn den objektivsten Beurteiler und Richter der hier aufgeregten Kontroverse.