Was bedeutet demnach das asketische Ideal bei einem Philosophen? Meine Antwort ist – man wird es längst erraten haben: der Philosoph lächelt bei seinem Anblick einem Optimum der Bedingungen höchster und kühnster Geistigkeit zu – er verneint nicht damit »das Dasein«, er bejaht darin vielmehr sein Dasein und nur sein Dasein, und dies vielleicht bis zu dem Grade, daß ihm der frevelhafte Wunsch nicht fern bleibt: pereat mundus, fiat philosophia, fiat philosophus, fiam! ...
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Man sieht, das sind keine unbestochnen Zeugen und Richter über den Wert des asketischen Ideals, diese Philosophen! Sie denken an sich – was geht sie »der Heilige« an! Sie denken an das dabei, was ihnen gerade das Unentbehrlichste ist: Freiheit von Zwang, Störung, Lärm, von Geschäften, Pflichten, Sorgen; Helligkeit im Kopf; Tanz, Sprung und Flug der Gedanken; eine gute Luft, dünn, klar, frei, trocken, wie die Luft auf Höhen ist, bei der alles animalische Sein geistiger[849] wird und Flügel bekommt; Ruhe in allen Souterrains; alle Hunde hübsch an die Kette gelegt; kein Gebell von Feindschaft und zotteliger Ranküne; keine Nagewürmer verletzten Ehrgeizes; bescheidne und untertänige Eingeweide, fleißig wie Mühlwerke, aber fern; das Herz fremd, jenseits, zukünftig, posthum, – sie denken, alles in allem, bei dem asketischen Ideal an den heitern Asketismus eines vergöttlichten und flügge gewordnen Tiers, das über dem Leben mehr schweift als ruht. Man weiß, was die drei großen Prunkworte des asketischen Ideals sind: Armut, Demut, Keuschheit: und nun sehe man sich einmal das Leben aller großen fruchtbaren erfinderischen Geister aus der Nähe an – man wird darin alle drei bis zu einem gewissen Grade immer wiederfinden. Durchaus nicht, wie sich von selbst versteht, als ob es etwa deren »Tugenden« wären – was hat diese Art Mensch mit Tugenden zu schaffen! –, sondern als die eigentlichsten und natürlichsten Bedingungen ihres besten Daseins, ihrer schönsten Fruchtbarkeit. Dabei ist es ganz wohl möglich, daß ihre dominierende Geistigkeit vorerst einem unbändigen und reizbaren Stolze oder einer mutwilligen Sinnlichkeit Zügel anzulegen hatte oder daß sie ihren Willen zur »Wüste« vielleicht gegen einen Hang zum Luxus und zum Ausgesuchtesten, insgleichen gegen eine verschwenderische Liberalität mit Herz und Hand schwer genug aufrechterhielt. Aber sie tat es, eben als der dominierende Instinkt, der seine Forderungen bei allen andren Instinkten durchsetzte – sie tut es noch; täte sie's nicht, so dominierte sie eben nicht. Daran ist also nichts von »Tugend«. Die Wüste übrigens, von welcher ich eben sprach, in die sich die starken, unabhängig gearteten Geister zurückziehn und vereinsamen – o wie anders sieht sie aus, als die Gebildeten sich eine Wüste träumen! – unter Umständen sind sie es nämlich selbst, diese Gebildeten. Und gewiß ist es, daß alle Schauspieler des Geistes es schlechterdings nicht in ihr aushielten – für sie ist sie lange nicht romantisch und syrisch genug, lange nicht Theater-Wüste genug! Es fehlt allerdings auch in ihr nicht an Kamelen: darauf aber beschränkt sich die ganze Ähnlichkeit. Eine willkürliche Obskurität vielleicht; ein Aus-dem-Wege-Gehn vor sich selber; eine Scheu vor Lärm, Verehrung, Zeitung, Einfluß; ein kleines Amt, ein Alltag, etwas, das mehr verbirgt als ans Licht stellt; ein Umgang gelegentlich mit harmlosem heitrem Getier[850] und Geflügel, dessen Anblick erholt; ein Gebirge zur Gesellschaft, aber kein totes, eins mit Augen (das heißt mit Seen); unter Umständen selbst ein Zimmer in einem vollen Allerwelts-Gasthof, wo man sicher ist, verwechselt zu werden, und ungestraft mit jedermann reden kann – das ist hier »Wüste«: o sie ist einsam genug, glaubt es mir! Wenn Heraklit sich in die Freihöfe und Säulengänge des ungeheuren Artemistempels zurückzog, so war diese »Wüste« würdiger, ich gebe es zu: weshalb fehlen uns solche Tempel? (– sie fehlen uns vielleicht nicht: eben gedenke ich meines schönsten Studierzimmers, der piazza di San Marco, Frühling vorausgesetzt, insgleichen Vormittag, die Zeit zwischen zehn und zwölf). Das aber, dem Heraklit auswich, ist das gleiche noch, dem wir jetzt aus dem Wege gehn: der Lärm und das Demokraten-Geschwätz der Ephesier, ihre Politik, ihre Neuigkeiten vom »Reich« (Persien, man versteht mich), ihr Markt-Kram von »heute« – denn wir Philosophen brauchen zuallererst vor einem Ruhe: vor allem »Heute«. Wir verehren das Stille, das
Kalte, das Vornehme, das Ferne, das Vergangne, jegliches überhaupt, bei dessen Aspekt die Seele sich nicht zu verteidigen und zuzuschnüren hat – etwas, mit dem man reden kann, ohne laut zu reden. Man höre doch nur auf den Klang, den ein Geist hat, wenn er redet: jeder Geist hat seinen Klang, liebt seinen Klang. Das dort zum Beispiel muß wohl ein Agitator sein, will sagen ein Hohlkopf, Hohltopf: was auch nur in ihn hineingeht, jeglich Ding kommt dumpf und dick aus ihm zurück, beschwert mit dem Echo der großen Leere. Jener dort spricht selten anders als heiser: hat er sich vielleicht heiser gedacht? Das wäre möglich – man frage die Physiologen –, aber wer in Worten denkt, denkt als Redner und nicht als Denker (es verrät, daß er im Grunde nicht Sachen, nicht sachlich denkt, sondern nur in Hinsicht auf Sachen, daß er eigentlich sich und seine Zuhörer denkt). Dieser Dritte da redet aufdringlich, er tritt zu nahe uns an den Leib, sein Atem haucht uns an – unwillkürlich schließen wir den Mund, obwohl es ein Buch ist, durch das er zu uns spricht: der Klang seines Stils sagt den Grund davon – daß er keine Zeit hat, daß er schlecht an sich selber glaubt, daß er heute oder niemals mehr zu Worte kommt. Ein Geist aber, der seiner selbst gewiß ist, redet leise; er sucht die Verborgenheit, er läßt auf sich warten. Man erkennt einen Philosophen daran, daß er drei glänzenden und[851] lauten Dingen aus dem Wege geht, dem Ruhme, den Fürsten und den Frauen: womit nicht gesagt ist, daß sie nicht zu ihm kämen. Er scheut allzu helles Licht: deshalb scheut er seine Zeit und deren »Tag«. Darin ist er wie ein Schatten: je mehr ihm die Sonne sinkt, um so größer wird er. Was seine »Demut« angeht, so verträgt er, wie er das Dunkel verträgt, auch eine gewisse Abhängigkeit und Verdunkelung: mehr noch, er fürchtet sich vor der Störung durch Blitze, er schreckt vor der Ungeschütztheit eines allzu isolierten und preisgegebnen Baums zurück, an dem jedes schlechte Wetter seine Laune, jede Laune ihr schlechtes Wetter ausläßt. Sein »mütterlicher« Instinkt, die geheime Liebe zu dem, was in ihm wächst, weist ihn auf Lagen hin, wo man es ihm abnimmt, an sich zu denken; in gleichem Sinne, wie der Instinkt der Mutter im Weibe die abhängige Lage des Weibes überhaupt bisher festgehalten hat. Sie verlangen zuletzt wenig genug, diese Philosophen, ihr Wahlspruch ist »wer besitzt, wird besessen« –: nicht, wie ich wieder und wieder sagen muß, aus einer Tugend, aus einem verdienstlichen Willen zur Genügsamkeit und Einfalt, sondern weil es ihr oberster Herr so von ihnen verlangt, klug und unerbittlich verlangt: als welcher nur für eins Sinn hat und alles, Zeit, Kraft, Liebe, Interesse nur dafür sammelt, nur dafür aufspart. Diese Art Mensch liebt es nicht, durch Feindschaften gestört zu werden, auch durch Freundschaften nicht; sie vergißt oder verachtet leicht. Es dünkt ihr ein schlechter Geschmack, den Märtyrer zu machen; »für die Wahrheit zu leiden« – das überläßt sie den Ehrgeizigen und Bühnenhelden des Geistes und wer sonst Zeit genug dazu hat (– sie selbst, die Philosophen, haben etwas für die Wahrheit zu tun). Sie machen einen sparsamen Verbrauch von großen Worten; man sagt, daß ihnen selbst das Wort »Wahrheit« widerstehe: es klinge großtuerisch... Was endlich die »Keuschheit« der Philosophen anbelangt, so hat diese Art Geist ihre Fruchtbarkeit ersichtlich woanders als in Kindern; vielleicht woanders auch das Fortleben ihres Namens, ihre kleine Unsterblichkeit (noch unbescheidner drückte man sich im alten Indien unter Philosophen aus: »wozu Nachkommenschaft dem, dessen Seele die Welt ist?«). Darin ist nichts von Keuschheit aus irgendeinem asketischen Skrupel und Sinnenhaß, so wenig es Keuschheit ist, wenn ein Athlet oder Jockei sich der Weiber enthält: so will es vielmehr, zum mindesten[852] für die Zeiten der großen Schwangerschaft, ihr dominierender Instinkt. Jeder Artist weiß, wie schädlich in Zuständen großer geistiger Spannung und Vorbereitung der Beischlaf wirkt; für die mächtigsten und instinktsichersten unter ihnen gehört dazu nicht erst die Erfahrung, die schlimme Erfahrung – sondern eben ihr »mütterlicher« Instinkt ist es, der hier zum Vorteil des werdenden Werkes rücksichtslos über alle sonstigen Vorräte und Zuschüsse von Kraft, von vigor des animalen Lebens verfügt: die größere Kraft verbraucht dann die kleinere. – Man lege sich übrigens den oben besprochnen Fall Schopenhauers nach dieser Interpretation zurecht: der Anblick des Schönen wirkte offenbar bei ihm als auslösender Reiz auf die Hauptkraft seiner Natur (die Kraft der Besinnung und des vertieften Blicks); so daß diese dann explodierte und mit einem Male Herr des Bewußtseins wurde. Damit soll durchaus die Möglichkeit nicht ausgeschlossen sein, daß jene eigentümliche Süßigkeit und Fülle, die dem ästhetischen Zustande eigen ist, gerade von der Ingredienz »Sinnlichkeit« ihre Herkunft nehmen könnte (wie aus derselben Quelle jener »Idealismus« stammt, der mannbaren Mädchen eignet) – daß somit die Sinnlichkeit beim Eintritt des ästhetischen Zustandes nicht aufgehoben ist, wie Schopenhauer glaubte, sondern sich nur transfiguriert und nicht als Geschlechtsreiz mehr ins Bewußtsein tritt.
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