Er muß selber krank sein, er muß den Kranken und Schlechtweggekommnen von Grund aus verwandt sein, um sie zu verstehen – um sich mit ihnen zu verstehen; aber er muß auch stark sein, mehr Herr noch über sich als über andere, unversehrt namentlich in seinem Willen zur Macht, damit er das Vertrauen und die Furcht der Kranken hat, damit er ihnen Halt, Widerstand, Stütze, Zwang, Zuchtmeister, Tyrann, Gott sein kann. Er hat sie zu verteidigen, seine Herde – gegen wen? Gegen die Gesunden, es ist kein Zweifel, auch gegen den Neid auf die Gesunden; er muß der natürliche Widersacher und Verächter aller rohen, stürmischen, zügellosen, harten, gewalttätig-raubtierhaften Gesundheit und Mächtigkeit sein. Der Priester ist die erste Form des delikateren Tiers, das leichter noch verachtet als haßt. Es wird ihm nicht erspart bleiben, Krieg zu führen mit den Raubtieren, einen Krieg der List (des »Geistes«) mehr als der Gewalt, wie sich von selbst versteht – er wird es dazu unter Umständen nötig haben, beinahe einen neuen Raubtier-Typus an sich herauszubilden, mindestens zu bedeuten – eine neue Tier-Furchtbarkeit, in welcher der Eisbär, die geschmeidige kalte abwartende Tigerkatze und nicht am wenigsten der Fuchs zu einer ebenso anziehenden als furchteinflößenden Einheit gebunden scheinen. Gesetzt, daß die Not ihn zwingt, so tritt er dann wohl bärenhaft-ernst, ehrwürdig, klug, kalt, trügerisch-überlegen, als Herold und Mundstück geheimnisvollerer Gewalten, mitten unter die andere Art Raubtiere selbst, entschlossen, auf diesem Boden Leid, Zwiespalt, Selbstwiderspruch, wo er kann, auszusäen und, seiner Kunst nur zu gewiß, über Leidende jederzeit Herr zu werden. Er bringt Salben und Balsam mit, es ist kein Zweifel; aber erst hat er nötig, zu verwunden, um Arzt zu sein; indem er dann den Schmerz stillt, den die Wunde macht, vergiftet er zugleich die Wunde – darauf vor allem nämlich versteht er sich, dieser Zauberer und Raubtier-Bändiger, in dessen Umkreis alles Gesunde notwendig krank und alles Kranke notwendig zahm wird. Er verteidigt in der Tat gut genug seine kranke Herde, dieser seltsame Hirt – er verteidigt sie auch gegen sich, gegen die in der Herde selbst glimmende Schlechtigkeit, Tücke, Böswilligkeit und was sonst allen Süchtigen und Kranken untereinander zu eigen ist, er kämpft klug, hart und heimlich mit der Anarchie und der jederzeit beginnenden Selbstauflösung innerhalb der Herde, in welcher jener[867] gefährlichste Spreng- und Explosivstoff, das Ressentiment, sich beständig häuft und häuft. Diesen Sprengstoff so zu entladen, daß er nicht die Herde und nicht den Hirten zersprengt, das ist sein eigentliches Kunststück, auch seine oberste Nützlichkeit; wollte man den Wert der priesterlichen Existenz in die kürzeste Formel fassen, so wäre geradewegs zu sagen: der Priester ist der Richtungs-Veränderer des Ressentiment. Jeder Leidende nämlich sucht instinktiv zu seinem Leid eine Ursache; genauer noch, einen Täter, noch bestimmter, einen für Leid empfänglichen schuldigen Täter – kurz irgend etwas Lebendiges, an dem er seine Affekte tätlich oder in effigie auf irgendeinen Vorwand hin entladen kann: denn die Affekt-Entladung ist der größte Erleichterungs-, nämlich Betäubungs-Versuch des Leidenden, sein unwillkürlich begehrtes Narkotikum gegen Qual irgendwelcher Art. Hierin allein ist, meiner Vermutung nach, die wirkliche physiologische Ursächlichkeit des Ressentiment, der Rache und ihrer Verwandten, zu finden, in einem Verlangen also nach Betäubung von Schmerz durch Affekt – man sucht dieselbe gemeinhin, sehr irrtümlich, wie mich dünkt, in dem Defensiv-Gegenschlag, einer bloßen Schutzmaßregel der Reaktion, einer »Reflexbewegung« im Falle irgendeiner plötzlichen Schädigung und Gefährdung von der Art, wie sie ein Frosch ohne Kopf noch vollzieht, um eine ätzende Säure loszuwerden. Aber die Verschiedenheit ist fundamental: im einen Falle will man weiteres Beschädigtwerden hindern, im anderen Falle will man einen quälenden, heimlichen, unerträglich werdenden Schmerz durch eine heftigere Emotion irgendwelcher Art betäuben und für den Augenblick wenigstens aus dem Bewußtsein schaffen – dazu braucht man einen Affekt, einen möglichst wilden Affekt und, zu dessen Erregung, den ersten besten Vorwand. »Irgend jemand muß schuld daran sein, daß ich mich schlecht befinde« – diese Art zu schließen ist allen Krankhaften eigen, und zwar je mehr ihnen die wahre Ursache ihres Sich-schlecht-Befindens, die physiologische, verborgen bleibt (– sie kann etwa in einer Erkrankung des nervus sympathicus liegen oder an einer übermäßigen Gallen-Absonderung oder in einer Armut des Blutes an schwefel- und phosphorsaurem Kali oder in Druckzuständen des Unterleibs, welche den Blutumlauf stauen, oder in Entartung der Eierstöcke und dergleichen). Die Leidenden sind allesamt von einer entsetzlichen Bereitwilligkeit[868] und Erfindsamkeit in Vorwänden zu schmerzhaften Affekten; sie genießen ihren Argwohn schon, das Grübeln über Schlechtigkeiten und scheinbare Beeinträchtigungen, sie durchwühlen die Eingeweide ihrer Vergangenheit und Gegenwart nach dunklen fragwürdigen Geschichten, wo es ihnen freisteht, in einem quälerischen Verdachte zu schwelgen und am eignen Gifte der Bosheit sich zu berauschen – sie reißen die ältesten Wunden auf, sie verbluten sich an längst ausgeheilten Narben, sie machen Übeltäter aus Freund, Weib, Kind und was sonst ihnen am nächsten steht. »Ich leide: daran muß irgend jemand schuld sein« – also denkt jedes krankhafte Schaf. Aber sein Hirt, der asketische Priester, sagt zu ihm: »Recht so, mein Schaf! irgendwer muß daran schuld sein: aber du selbst bist dieser Irgend-Wer, du selbst bist daran allein schuld – du selbst bist an dir allein schuld!«... Das ist kühn genug, falsch genug: aber eins ist damit wenigstens erreicht, damit ist, wie gesagt, die Richtung des Ressentiment – verändert.
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Man errät nunmehr, was nach meiner Vorstellung der Heilkünstler-Instinkt des Lebens durch den asketischen Priester zum mindesten versucht hat und wozu ihm eine zeitweilige Tyrannei solcher paradoxer und paralogischer Begriffe wie »Schuld«, »Sünde«, »Sündhaftigkeit«, »Verderbnis«, »Verdammnis« hat dienen müssen: die Kranken bis zu einem gewissen Grade unschädlich zu machen, die Unheilbaren durch sich selbst zu zerstören, den Milder-Erkrankten streng die Richtung auf sich selbst, eine Rückwärts-Richtung ihres Ressentiment zu geben (»Eins ist not« –) und die schlechten Instinkte aller Leidenden dergestalt zum Zweck der Selbstdisziplinierung, Selbstüberwachung, Selbstüberwindung auszunützen. Es kann sich, wie sich von selbst versteht, mit einer »Medikation« dieser Art, einer bloßen Affekt-Medikation, schlechterdings nicht um eine wirkliche Kranken-Heilung im physiologischen Verstande handeln; man dürfte selbst nicht einmal behaupten, daß der Instinkt des Lebens hierbei irgendwie die Heilung in Aussicht und Absicht genommen habe. Eine Art Zusammendrängung und Organisation der Kranken auf der einen Seite (– das Wort »Kirche« ist dafür der populärste Name), eine Art vorläufiger Sicherstellung[869] der Gesünder-Geratenen, der Voller-Ausgegossenen auf der andern, die Aufreißung einer Kluft somit zwischen Gesund und Krank – das war für lange alles! Und es war viel! es war sehr viel!... (Ich gehe in dieser Abhandlung, wie man sieht, von einer Voraussetzung aus, die ich in Hinsicht auf Leser, wie ich sie brauche, nicht erst zu begründen habe: daß »Sündhaftigkeit« am Menschen kein Tatbestand ist, vielmehr nur die Interpretation eines Tatbestandes, nämlich einer physiologischen Verstimmung – letztere unter einer moralisch-religiösen Perspektive gesehn, welche für uns nichts Verbindliches mehr hat. – Damit, daß jemand sich »schuldig«, »sündig« fühlt, ist schlechterdings noch nicht bewiesen, daß er sich mit Recht so fühlt; so wenig jemand gesund ist bloß deshalb, weil er sich gesund fühlt. Man erinnere sich doch der berühmten Hexen-Prozesse: damals zweifelten die scharfsichtigsten und menschenfreundlichsten Richter nicht daran, daß hier eine Schuld vorliege; die »Hexen« selbst zweifelten nicht daran – und dennoch fehlte die Schuld. – Um jene Voraussetzung in erweiterter Form auszudrücken: der »seelische Schmerz« selbst gilt mir überhaupt nicht als Tatbestand, sondern nur als eine Auslegung (Kausal-Auslegung) von bisher nicht exakt zu formulierenden Tatbeständen: somit als etwas, das vollkommen noch in der Luft schwebt und wissenschaftlich unverbindlich ist – ein fettes Wort eigentlich nur an Stelle eines sogar spindeldürren Fragezeichens. Wenn jemand mit einem »seelischen Schmerz« nicht fertig wird, so liegt das, grob geredet, nicht an seiner »Seele«; wahrscheinlicher noch an seinem Bauche (grob geredet, wie gesagt: womit noch keineswegs der Wunsch ausgedrückt ist, auch grob gehört, grob verstanden zu werden...). Ein starker und wohlgeratner Mensch verdaut seine Erlebnisse (Taten, Untaten eingerechnet), wie er seine Mahlzeiten verdaut, selbst wenn er harte Bissen zu verschlucken hat. Wird er mit einem Erlebnisse »nicht fertig«, so ist diese Art Indigestion so gut physiologisch wie jene andere – und vielfach in der Tat nur eine der Folgen jener anderen. – Mit einer solchen Auffassung kann man, unter uns gesagt, immer noch der strengste Gegner alles Materialismus [870]sein...)
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Ist er aber eigentlich ein Arzt, dieser asketische Priester? – Wir begriffen schon, inwiefern es kaum erlaubt ist, ihn einen Arzt zu nennen, so gern er auch selbst sich als »Heiland« fühlt, als »Heiland« verehren läßt. Nur das Leiden selbst, die Unlust des Leidenden wird von ihm bekämpft, nicht deren Ursache, nicht das eigentliche Kranksein – das muß unsren grundsätzlichsten Einwand gegen die priesterliche Medikation abgeben. Stellt man sich aber erst einmal in die Perspektive, wie der Priester sie allein kennt und hat, so kommt man nicht leicht zu Ende in der Bewunderung, was er unter ihr alles gesehn, gesucht und gefunden hat. Die Milderung des Leidens, das »Trösten« jeder Art – das erweist sich als sein Genie selbst; wie erfinderisch hat er seine Tröster-Aufgabe verstanden, wie unbedenklich und kühn hat er zu ihr die Mittel gewählt! Das Christentum insonderheit dürfte man eine große Schatzkammer geistreichster Trostmittel nennen, so viel Equickliches, Milderndes, Narkotisierendes ist in ihm gehäuft, so viel Gefährlichstes und Verwegenstes zu diesem Zweck gewagt, so fein, so raffiniert, so südländisch-raffiniert ist von ihm insbesondere erraten worden, mit was für Stimulanz-Affekten die tiefe Depression, die bleierne Ermüdung, die schwarze Traurigkeit der Physiologisch-Gehemmten wenigstens für Zeiten besiegt werden kann. Denn, allgemein gesprochen: bei allen großen Religionen handelte es sich in der Hauptsache um die Bekämpfung einer gewissen zur Epidemie gewordnen Müdigkeit und Schwere.
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