Man kann es von vornherein als wahrscheinlich ansetzen, daß von Zeit zu Zeit an bestimmten Stellen der Erde fast notwendig ein physiologisches Hemmungsgefühl über breite Massen Herr werden muß, welches aber, aus Mangel an physiologischem Wissen, nicht als solches ins Bewußtsein tritt, so daß dessen »Ursache«, dessen Remedur auch nur psychologisch-moralisch gesucht und versucht werden kann (– dies nämlich ist meine allgemeinste Formel für das, was gemeinhin eine »Religion« genannt wird). Ein solches Hemmungsgefühl kann verschiedenster Abkunft sein: etwa als Folge der Kreuzung von zu fremdartigen Rassen (oder von Ständen – Stände drücken immer auch Abkunfts- und Rassen-Differenzen aus: der europäische »Weltschmerz«, der »Pessimismus« des neunzehnten[871] Jahrhunderts, ist wesentlich die Folge einer unsinnig plötzlichen Stände-Mischung); oder bedingt durch eine fehlerhafte Emigration – eine Rasse in ein Klima geraten, für das ihre Anpassungskraft nicht ausreicht (der Fall der Inder in Indien); oder die Nachwirkung von Alter und Ermüdung der Rasse (Pariser Pessimismus von 1850 an); oder einer falschen Diät (Alkoholismus des Mittelalters; der Unsinn der vegetarians, welche freilich die Autorität des Junker Christoph bei Shakespeare für sich haben); oder von Blutverderbnis, Malaria, Syphilis und dergleichen (deutsche Depression nach dem Dreißigjährigen Kriege, welcher halb Deutschland mit schlechten Krankheiten durchseuchte und damit den Boden für deutsche Servilität, deutschen Kleinmut vorbereitete). In einem solchen Falle wird jedesmal im größten Stil ein Kampf mit dem Unlustgefühl versucht; unterrichten wir uns kurz über dessen wichtigste Praktiken und Formen. (Ich lasse hier, wie billig, den eigentlichen Philosophen-Kampf gegen das Unlustgefühl, der immer gleichzeitig zu sein pflegt, ganz beiseite – er ist interessant genug, aber zu absurd, zu praktisch-gleichgültig, zu spinneweberisch und eckensteherhaft, etwa wenn der Schmerz als ein Irrtum bewiesen werden soll, unter der naiven Voraussetzung, daß der Schmerz schwinden müsse, wenn erst der Irrtum in ihm erkannt ist – aber siehe da! er hütete sich, zu schwinden...) Man bekämpft erstens jene dominierende Unlust durch Mittel, welche das Lebensgefühl überhaupt auf den niedrigsten Punkt herabsetzen. Womöglich überhaupt kein Wollen, kein Wunsch mehr; allem, was Affekt macht, was »Blut« macht, ausweichen (kein Salz essen: Hygiene des Fakirs); nicht lieben; nicht hassen; Gleichmut; nicht sich rächen; nicht sich bereichern; nicht arbeiten; betteln; womöglich kein Weib, oder so wenig Weib als möglich; in geistiger Hinsicht das Prinzip Pascals »il faut s'abêtir«. Resultat, psychologisch-moralisch ausgedrückt, »Entselbstung«, »Heiligung«; physiologisch ausgedrückt: Hypnotisierung – der Versuch, etwas für den Menschen annähernd zu erreichen, was der Winterschlaf für einige Tierarten, der Sommerschlaf für viele Pflanzen der heißen Klimate ist, ein Minimum von Stoffverbrauch und Stoffwechsel, bei dem das Leben gerade noch besteht, ohne eigentlich noch ins Bewußtsein zu treten. Auf dieses Ziel ist eine erstaunliche Menge menschlicher Energie verwandt worden – umsonst etwa?.. Daß solche sportsmen der[872] »Heiligkeit«, an denen alle Zeiten, fast alle Völker reich sind, in der Tat eine wirkliche Erlösung von dem gefunden haben, was sie mit einem so rigorosen training bekämpften, daran darf man durchaus nicht zweifeln – sie kamen von jener tiefen physiologischen Depression mit Hilfe ihres Systems von Hypnotisierungs-Mitteln in unzähligen Fällen wirklich los: weshalb ihre Methodik zu den allgemeinsten ethnologischen Tatsachen zählt. Insgleichen fehlt jede Erlaubnis dazu, um schon an sich eine solche Absicht auf Aushungerung der Leiblichkeit und der Begierde unter die Irrsinns-Symptome zu rechnen (wie es eine täppische Art von Roastbeef-fressenden »Freigeistern« und Junker Christophen zu tun beliebt). Um so sicherer ist es, daß sie den Weg zu allerhand geistigen Störungen abgibt, abgeben kann, zu »inneren Lichtern« zum Beispiel, wie bei den Hesychasten vom Berge Athos, zu Klang- und Gestalt-Halluzinationen, zu wollüstigen Überströmungen und Ekstasen der Sinnlichkeit (Geschichte der heiligen Therese). Die Auslegung, welche derartigen Zuständen von den mit ihnen Behafteten gegeben wird, ist immer so schwärmerisch-falsch wie möglich gewesen, dies versteht sich von selbst: nur überhöre man den Ton überzeugtester Dankbarkeit nicht, der eben schon im Willen zu einer solchen Interpretations-Art zum Erklingen kommt. Der höchste Zustand, die Erlösung selbst, jene endlich erreichte Gesamt-Hypnotisierung und Stille, gilt ihnen immer als das Geheimnis an sich, zu dessen Ausdruck auch die höchsten Symbole nicht ausreichen, als Ein- und Heimkehr in den Grund der Dinge, als Freiwerden von allem Wahne, als »Wissen«, als »Wahrheit«, als »Sein«, als Loskommen von jedem Ziele, jedem Wunsche, jedem Tun, als ein Jenseits auch von Gut und Böse. »Gutes und Böses«, sagt der Buddhist – »beides sind Fesseln: über beides wurde der Vollendete Herr«; »Getanes und Ungetanes«, sagt der Gläubige des Vedânta, »schafft ihm keinen Schmerz; das Gute und das Böse schüttelt er als ein Weiser von sich; sein Reich leidet durch keine Tat mehr; über Gutes und Böses, über beides ging er hinaus«: – eine gesamt-indische Auffassung also, ebenso brahmanistisch als buddhistisch. (Weder in der indischen, noch in der christlichen Denkweise gilt jene »Erlösung« als erreichbar durch Tugend, durch moralische Besserung, so hoch der Hypnotisierungs-Wert der Tugend auch von ihnen angesetzt wird: dies halte man fest[873] – es entspricht dies übrigens einfach dem Tatbestande. Hierin wahr geblieben zu sein, darf vielleicht als das beste Stück Realismus in den drei größten, sonst so gründlich vermoralisierten Religionen betrachtet werden. »Für den Wissenden gibt es keine Pflicht«... »Durch Zulegung von Tugenden kommt Erlösung nicht zustande: denn sie besteht im Einssein mit dem keiner Zulegung von Vollkommenheit fähigen Brahman; und ebensowenig in der Ablegung von Fehlern: denn das Brahman, mit dem eins zu sein das ist, was Erlösung ausmacht, ist ewig rein« – diese Stellen aus dem Kommentare des Çankara, zitiert von dem ersten wirklichen Kenner der indischen Philosophie in Europa, meinem Freunde Paul Deussen.) Die »Erlösung« in den großen Religionen wollen wir also in Ehren halten; dagegen wird es uns ein wenig schwer, bei der Schätzung, welche schon der tiefe Schlaf durch diese selbst für das Träumen zu müd gewordnen Lebensmüden erfährt, ernsthaft zu bleiben – der tiefe Schlaf nämlich bereits als Eingehen in das Brahman, als erreichte unio mystica mit Gott. »Wenn er dann eingeschlafen ist ganz und gar« – heißt es darüber in der ältesten und ehrwürdigsten »Schrift« – »und völlig zur Ruhe gekommen, daß er kein Traumbild mehr schaut, alsdann ist er, o Teurer, vereinigt mit dem Seienden, in sich selbst ist er eingegangen – von dem erkenntnisartigen Selbst umschlungen, hat er kein Bewußtsein mehr von dem, was außen oder innen ist. Diese Brücke überschreiten nicht Tag und Nacht, nicht das Alter, nicht der Tod, nicht das Leiden, nicht gutes Werk, noch böses Werk.« »Im tiefen Schlafe«, sagen insgleichen die Gläubigen dieser tiefsten der drei großen Religionen, »hebt sich die Seele heraus aus diesem Leibe, geht ein in das höchste Licht und tritt dadurch hervor in eigener Gestalt: da ist sie der höchste Geist selbst, der herumwandelt, indem er scherzt und spielt und sich ergötzt, sei es mit Weibern oder mit Wagen oder mit Freunden, da denkt sie nicht mehr zurück an dieses Anhängsel von Leib, an welches der prâna (der Lebensodem) angespannt ist wie ein Zugtier an den Karren.« Trotzdem wollen wir auch hier wie im Falle der »Erlösung« uns gegenwärtig halten, daß damit im Grunde, wie sehr auch immer in der Pracht orientalischer Übertreibung, nur die gleiche Schätzung ausgedrückt ist, welche die des klaren, kühlen, griechisch-kühlen, aber leidenden Epikur war: das hypnotische Nichts-Gefühl, die Ruhe des tiefsten Schlafes, [874] Leidlosigkeit kurzum – das darf Leidenden und Gründlich-Verstimmten schon als höchstes Gut, als Wert der Werte gelten, das muß von ihnen als positiv abgeschätzt, als das Positive selbst empfunden werden. (Nach derselben Logik des Gefühls heißt in allen pessimistischen Religionen das Nichts Gott.)
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Viel häufiger als eine solche hypnotistische Gesamtdämpfung der Sensibilität, der Schmerzfähigkeit, welche schon seltnere Kräfte, vor allem Mut, Verachtung der Meinung, »intellektuellen Stoizismus« voraussetzt, wird gegen Depressions-Zustände ein anderes training versucht, welches jedenfalls leichter ist: die machinale Tätigkeit. Daß mit ihr ein leidendes Dasein in einem nicht unbeträchtlichen Grade erleichtert wird, steht außer allem Zweifel: man nennt heute diese Tatsache, etwas unehrlich, »den Segen der Arbeit«. Die Erleichterung besteht darin, daß das Interesse des Leidenden grundsätzlich vom Leiden abgelenkt wird –, daß beständig ein Tun und wieder nur ein Tun ins Bewußtsein tritt und folglich wenig Platz darin für Leiden bleibt: denn sie ist eng, diese Kammer des menschlichen Bewußtseins! Die machinale Tätigkeit und was zu ihr gehört – wie die absolute Regularität, der pünktliche besinnungslose Gehorsam, das Ein-für-allemal der Lebensweise, die Ausfüllung der Zeit, eine gewisse Erlaubnis, ja eine Zucht zur »Unpersönlichkeit«, zum Sich-selbst-Vergessen, zur »incuria sui« –: wie gründlich, wie fein hat der asketische Priester sie im Kampf mit dem Schmerz zu benutzen gewußt! Gerade wenn er mit Leidenden der niederen Stände, mit Arbeitssklaven oder Gefangenen zu tun hatte (oder mit Frauen: die ja meistens beides zugleich sind, Arbeitssklaven und Gefangene), so bedurfte es wenig mehr als einer kleinen Kunst des Namenwechselns und der Umtaufung, um sie in verhaßten Dingen fürderhin eine Wohltat, ein relatives Glück sehn zu machen – die Unzufriedenheit des Sklaven mit seinem Los ist jedenfalls nicht von den Priestern erfunden worden. – Ein noch geschätzteres Mittel im Kampf mit der Depression ist die Ordinierung einer kleinen Freude, die leicht zugänglich ist und zur Regel gemacht werden kann; man bedient sich dieser Medikation häufig in Verbindung mit der[875] eben besprochnen. Die häufigste Form, in der die Freude dergestalt als Kurmittel ordiniert wird, ist die Freude des Freude-Machens (als Wohltun, Beschenken, Erleichtern, Helfen, Zureden, Trösten, Loben, Auszeichnen); der asketische Priester verordnet damit, daß er »Nächstenliebe« verordnet, im Grunde eine Erregung des stärksten, lebensbejahendsten Triebes, wenn auch in der vorsichtigsten Dosierung – des Willens zur Macht. Das Glück der »kleinsten Überlegenheit«, wie es alles Wohltun, Nützen, Helfen, Auszeichnen mit sich bringt, ist das reichlichste Trostmittel, dessen sich die Physiologisch-Gehemmten zu bedienen pflegen, gesetzt, daß sie gut beraten sind: im andern Falle tun sie einander weh, natürlich im Gehorsam gegen den gleichen Grundinstinkt. Wenn man nach den Anfängen des Christentums in der römischen Welt sucht, so findet man Vereine zu gegenseitiger Unterstützung, Armen-, Kranken-, Begräbnis-Vereine, aufgewachsen auf dem untersten Boden der damaligen Gesellschaft, in denen mit Bewußtsein jenes Hauptmittel gegen die Depression, die kleine Freude, die des gegenseitigen Wohltuns gepflegt wurde – vielleicht war dies damals etwas Neues, eine eigentliche Entdeckung? In einem dergestalt hervorgerufnen »Willen zur Gegenseitigkeit«, zur Herdenbildung, zur »Gemeinde«, zum »Zönakel« muß nun wiederum jener damit, wenn auch im kleinsten, erregte Wille zur Macht, zu einem neuen und viel volleren Ausbruch kommen: die Herdenbildung ist im Kampf mit der Depression ein wesentlicher Schritt und Sieg. Im Wachsen der Gemeinde erstarkt auch für den einzelnen ein neues Interesse, das ihn oft genug über das Persönlichste seines Mißmuts, seine Abneigung gegen sich (die »despectio sui« des Geulincx) hinweghebt. Alle Kranken, Krankhaften streben instinktiv, aus einem Verlangen nach Abschüttelung der dumpfen Unlust und des Schwächegefühls, nach einer Herden-Organisation: der asketische Priester errät diesen Instinkt und fördert ihn; wo es Herden gibt, ist es der Schwäche-Instinkt, der die Herde gewollt hat, und die Priester-Klugheit, die sie organisiert hat. Denn man übersehe dies nicht: die Starken streben ebenso naturnotwendig auseinander, als die Schwachen zueinander; wenn erstere sich verbinden, so geschieht es nur in der Aussicht auf eine aggressive Gesamt-Aktion und Gesamt-Befriedigung ihres Willens zur Macht, mit vielem Widerstande des Einzel-Gewissens; letztere dagegen ordnen sich zusammen,[876] mit Lust gerade an dieser Zusammenordnung – ihr Instinkt ist dabei ebenso befriedigt, wie der Instinkt der geborenen »Herren« (das heißt der solitären Raubtier-Spezies Mensch) im Grunde durch Organisation gereizt und beunruhigt wird. Unter jeder Oligarchie liegt – die ganze Geschichte lehrt es – immer das tyrannische Gelüst versteckt; jede Oligarchie zittert beständig von der Spannung her, welche jeder einzelne in ihr nötig hat, Herr über dies Gelüst zu bleiben.
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