Der Hauptgriff, den sich der asketische Priester erlaubte, um auf der menschlichen Seele jede Art von zerreißender und verzückter Musik zum Erklingen zu bringen, war damit getan – jedermann weiß das –,[880] daß er sich das Schuldgefühl zunutze machte. Dessen Herkunft hat die vorige Abhandlung kurz angedeutet – als ein Stück Tierpsychologie, als nicht mehr: das Schuldgefühl trat uns dort gleichsam in seinem Rohzustande entgegen. Erst unter den Händen des Priesters, dieses eigentlichen Künstlers in Schuldgefühlen, hat es Gestalt gewonnen – o was für eine Gestalt! Die »Sünde« – denn so lautet die priesterliche Umdeutung des tierischen »schlechten Gewissens« (der rückwärts gewendeten Grausamkeit) – ist bisher das größte Ereignis in der Geschichte der kranken Seele gewesen: in ihr haben wir das gefährlichste und verhängnisvollste Kunststück der religiösen Interpretation. Der Mensch, an sich selbst leidend, irgendwie, jedenfalls physiologisch etwa wie ein Tier, das in den Käfig gesperrt ist, unklar, warum, wozu?, begehrlich nach Gründen – Gründe erleichtern –, begehrlich auch nach Mitteln und Narkosen, berät sich endlich mit einem, der auch das Verborgne weiß – und siehe da! er bekommt einen Wink, er bekommt von seinem Zauberer, dem asketischen Priester, den ersten Wink über die »Ursache« seines Leidens: er soll sie in sich suchen, in einer Schuld, in einem Stück Vergangenheit, er soll sein Leiden selbst als einen Strafzustand verstehn... Er hat gehört, er hat verstanden, der Unglückliche: jetzt geht es ihm wie der Henne, um die ein Strich gezogen ist. Er kommt aus diesem Kreis von Strichen nicht wieder heraus: aus dem Kranken ist »der Sünder« gemacht... Und nun wird man den Aspekt dieses neuen Kranken, »des Sünders«, für ein paar Jahrtausende nicht los – wird man ihn je wieder los? –, wohin man nur sieht, überall der hypnotische Blick des Sünders, der sich immer in der einen Richtung bewegt (in der Richtung auf »Schuld«, als der einzigen Leidens-Kausalität); überall das böse Gewissen, dies »grewliche thier«, mit Luther zu reden; überall die Vergangenheit zurückgekäut, die Tat verdreht, das »grüne Auge« für alles Tun; überall das zum Lebensinhalt gemachte Mißverstehen-Wollen des Leidens, dessen Umdeutung in Schuld-, Furcht- und Strafgefühle; überall die Geißel, das härene Hemd, der verhungernde Leib, die Zerknirschung; überall das Sich-selbst-Rädern des Sünders in dem grausamen Räderwerk eines unruhigen, krankhaft-lüsternen Gewissens; überall die stumme Qual, die äußerste Furcht, die Agonie des gemarterten Herzens, die Krämpfe eines unbekannten Glücks, der Schrei nach »Erlösung«. In der Tat, mit diesem System[881] von Prozeduren war die alte Depression, Schwere und Müdigkeit gründlich überwunden, das Leben wurde wieder sehr interessant: wach, ewig wach, übernächtig, glühend, verkohlt, erschöpft und doch nicht müde – so nahm sich der Mensch aus, »der Sünder«, der in diese Mysterien eingeweiht war. Dieser alte große Zauberer im Kampf mit der Unlust, der asketische Priester – er hatte ersichtlich gesiegt, sein Reich war gekommen: schon klagte man nicht mehr gegen den Schmerz, man lechzte nach dem Schmerz; »mehr Schmerz! mehr Schmerz!« so schrie das Verlangen seiner Jünger und Eingeweihten jahrhundertelang. Jede Ausschweifung des Gefühls, die wehtat, alles was zerbrach, umwarf, zermalmte, entrückte, verzückte, das Geheimnis der Folterstätten, die Erfindsamkeit der Hölle selbst – alles war nunmehr entdeckt, erraten, ausgenützt, alles stand dem Zauberer zu Diensten, alles diente fürderhin dem Siege seines Ideals, des asketischen Ideals... »Mein Reich ist nicht von dieser Welt« – redete er nach wie vor: hatte er wirklich das Recht noch, so zu reden?... Goethe hat behauptet, es gäbe nur sechsunddreißig tragische Situationen: man errät daraus, wenn man's sonst nicht wüßte, daß Goethe kein asketischer Priester war. Der – kennt mehr...[882]
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In Hinsicht auf diese ganze Art der priesterlichen Medikation, die »schuldige« Art, ist jedes Wort Kritik zu viel. Daß eine solche Ausschweifung des Gefühls, wie sie in diesem Falle der asketische Priester seinen Kranken zu verordnen pflegt (unter den heiligsten Namen, wie sich von selbst versteht, insgleichen durchdrungen von der Heiligkeit seines Zwecks), irgendeinem Kranken wirklich genützt habe, wer hätte wohl Lust, eine Behauptung der Art aufrechtzuhalten? Zum mindesten sollte man sich über das Wort »nützen« verstehn. Will man damit ausdrücken, ein solches System von Behandlung habe den Menschen verbessert, so widerspreche ich nicht: nur daß ich hinzufüge, was bei mir »verbessert« heißt – ebenso viel wie »gezähmt«, »geschwächt«, »entmutigt«, »raffiniert«, »verzärtlicht«, »entmannt« (also beinahe so viel als geschädigt...). Wenn es sich aber in der Hauptsache um Kranke, Verstimmte, Deprimierte handelt, so macht ein solches System den Kranken, gesetzt selbst, daß es ihn »besser« machte, unter allen Umständen [882] kränker; man frage nur die Irrenärzte, was eine methodische Anwendung von Buß-Quälereien, Zerknirschungen und Erlösungskrämpfen immer mit sich führt. Insgleichen befrage man die Geschichte: überall, wo der asketische Priester diese Krankenbehandlung durchgesetzt hat, ist jedesmal die Krankhaftigkeit unheimlich schnell in die Tiefe und Breite gewachsen. Was war immer der »Erfolg«? Ein zerrüttetes Nervensystem, hinzu zu dem, was sonst schon krank war; und das im größten wie im kleinsten, bei einzelnen wie bei Massen. Wir finden im Gefolge des Buß- und Erlösungs-training ungeheure epileptische Epidemien, die größten, von denen die Geschichte weiß, wie die der St.-Veit- und St.-Johann-Tänzer des Mittelalters; wir finden als andre Form seines Nachspiels furchtbare Lähmungen und Dauer-Depressionen, mit denen unter Umständen das Temperament eines Volks oder einer Stadt (Genf, Basel) ein für allemal in sein Gegenteil umschlägt; – hierher gehört auch die Hexen-Hysterie, etwas dem Somnambulismus Verwandtes (acht große epidemische Ausbrüche derselben allein zwischen 1564 und 1605) –; wir finden in seinem Gefolge insgleichen jene todsüchtigen Massen-Delirien, deren entsetzlicher Schrei »evviva la morte!« über ganz Europa weg gehört wurde, unterbrochen bald von wollüstigen, bald von zerstörungswütigen Idiosynkrasien: wie der gleiche Affektwechsel, mit den gleichen Intermittenzen und Umsprüngen, auch heute noch überall beobachtet wird, in jedem Falle, wo die asketische Sündenlehre es wieder einmal zu einem großen Erfolge bringt. (Die religiöse Neurose erscheint als eine Form des »bösen Wesens«: daran ist kein Zweifel. Was sie ist? Quaeritur.) Ins große gerechnet, so hat sich das asketische Ideal und sein sublimmoralischer Kultus, diese geistreichste, unbedenklichste und gefährlichste Systematisierung aller Mittel der Gefühls-Ausschweifung unter dem Schutzheiliger Absichten, auf eine furchtbare und unvergeßliche Weise in die ganze Geschichte des Menschen eingeschrieben; und leider nicht nur in seine Geschichte... Ich wüßte kaum noch etwas anderes geltendzumachen, was dermaßen zerstörerisch der Gesundheit und Rassen-Kräftigkeit, namentlich der Europäer, zugesetzt hat als dies Ideal; man darf es ohne alle Übertreibung das eigentliche Verhängnis in der Gesundheitsgeschichte des europäischen Menschen nennen. Höchstens, daß seinem Einflusse noch der spezifisch-germanische Einfluß[883] gleichzusetzen wäre: ich meine die Alkohol-Vergiftung Europas, welche streng mit dem politischen und Rassen-Über gewicht der Germanen bisher Schritt gehalten hat (– wo sie ihr Blut einimpften, impften sie auch ihr Laster ein). – Zu dritt in der Reihe wäre die Syphilis zu nennen – magno sed proxima intervallo.
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Der asketische Priester hat die seelische Gesundheit verdorben, wo er auch nur zur Herrschaft gekommen ist, er hat folglich auch den Geschmack verdorben in artibus et litteris – er verdirbt ihn immer noch. »Folglich?« – Ich hoffe, man gibt mir dies Folglich einfach zu; zum mindesten will ich es nicht erst beweisen. Ein einziger Fingerzeig: er gilt dem Grundbuche der christlichen Literatur, ihrem eigentlichen Modell, ihrem »Buche an sich«. Noch inmitten der griechisch-römischen Herrlichkeit, welche auch eine Bücher-Herrlichkeit war, angesichts einer noch nicht verkümmerten und zertrümmerten antiken Schriften-Welt, zu einer Zeit, da man noch einige Bücher lesen konnte, um deren Besitz man jetzt halbe Literaturen eintauschen würde, wagte es bereits die Einfalt und Eitelkeit christlicher Agitatoren – man heißt sie Kirchenväter –, zu dekretieren: »auch wir haben unsre klassische Literatur, wir brauchen die der Griechen nicht« – und dabei wies man stolz auf Legendenbücher, Apostelbriefe und apologetische Traktätlein hin, ungefähr so, wie heute die englische »Heilsarmee« mit einer verwandten Literatur ihren Kampf gegen Shakespeare und andre »Heiden« kämpft. Ich liebe das »Neue Testament« nicht, man errät es bereits; es beunruhigt mich beinahe, mit meinem Geschmack in betreff dieses geschätztesten, überschätztesten Schriftwerks dermaßen alleinzustehn (der Geschmack zweier Jahrtausende ist gegen mich): aber, was hilft es! »Hier stehe ich, ich kann nicht anders«, – ich habe den Mut zu meinem schlechten Geschmack. Das Alte Testament – ja, das ist ganz etwas anderes: alle Achtung vor dem Alten Testament! In ihm finde ich große Menschen, eine heroische Landschaft und etwas vom Allerseltensten auf Erden, die unvergleichliche Naivität des starken Herzens; mehr noch, ich finde ein Volk. Im Neuen dagegen lauter kleine Sekten-Wirtschaft, lauter Rokoko der Seele, lauter Verschnörkeltes,[884] Winkliges, Wunderliches, lauter Konventikel-Luft, nicht zu vergessen einen gelegentlichen Hauch bukolischer Süßlichkeit, welcher der Epoche (und der römischen Provinz) angehört und nicht sowohl jüdisch als hellenistisch ist.
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