Demut und Wichtigtuerei dicht nebeneinander; eine Geschwätzigkeit des Gefühls, die fast betäubt; Leidenschaftlichkeit, keine Leidenschaft; peinliches Gebärdenspiel; hier hat ersichtlich jede gute Erziehung gefehlt. Wie darf man von seinen kleinen Untugenden so viel Wesens machen, wie es diese frommen Männlein tun! Kein Hahn kräht danach; geschweige denn Gott. Zuletzt wollen sie gar noch »die Krone des ewigen Lebens« haben, alle diese kleinen Leute der Provinz; wozu doch? wofür doch? – man kann die Unbescheidenheit nicht weiter treiben. Ein »unsterblicher« Petrus: wer hielte den aus! sie haben einen Ehrgeiz, der lachen macht: das käut sein Persönlichstes, seine Dummheiten, Traurigkeiten und Eckensteher-Sorgen vor, als ob das An-sich der Dinge verpflichtet sei, sich darum zu kümmern; das wird nicht müde, Gott selber in den kleinsten Jammer hineinzuwickeln, in dem sie drinstecken. Und dieses beständige Auf-du-und-du mit Gott des schlechtesten Geschmacks! Diese jüdische, nicht bloß jüdische Zudringlichkeit gegen Gott mit Maul und Tatze!... Es gibt kleine verachtete »Heidenvölker« im Osten Asiens, von denen diese ersten Christen etwas Wesentliches hätten lernen können, etwas Takt der Ehrfurcht; jene erlauben sich nicht, wie christliche Missionare bezeugen, den Namen ihres Gottes überhaupt in den Mund zu nehmen. Dies dünkt mich delikat genug; gewiß ist, daß es nicht nur für »erste« Christen zu delikat ist: man erinnere sich doch etwa, um den Gegensatz zu spüren, an Luther, diesen »beredtesten« und unbescheidensten Bauer, den Deutschland gehabt hat, und an die Lutherische Tonart, die gerade ihm in seinen Zwiegesprächen mit Gott am besten gefiel. Luthers Widerstand gegen die Mittler-Heiligen der Kirche (insbesondere gegen »des Teuffels Saw den Bapst«) war, daran ist kein Zweifel, im letzten Grunde der Widerstand eines Rüpels, den die gute Etikette der Kirche verdroß, jene Ehrfurchts-Etikette des hieratischen Geschmacks, welche nur die Geweihteren und Schweigsameren in das Allerheiligste einläßt und es gegen die Rüpel zuschließt. Diese sollen ein für allemal gerade hier nicht das Wort haben – aber Luther, der Bauer, wollte es schlechterdings anders, so[885] war es ihm nicht deutsch genug: er wollte vor allem direkt reden, selber reden, »ungeniert« mit seinem Gotte reden... Nun, er hat's getan. – Das asketische Ideal, man errät es wohl, war niemals und nirgendswo eine Schule des guten Geschmacks, noch weniger der guten Manieren – es war im besten Fall eine Schule der hieratischen Manieren –: das macht, es hat selber etwas im Leibe, das allen guten Manieren todfeind ist – Mangel an Maß, Widerwillen gegen Maß, es ist selbst ein »non plus ultra«.
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Das asketische Ideal hat nicht nur die Gesundheit und den Geschmack verdorben, es hat noch etwas Drittes, Viertes, Fünftes, Sechstes verdorben – ich werde mich hüten, zu sagen was alles (wann käme ich zu Ende!). Nicht was dies Ideal gewirkt hat, soll hier von mir ans Licht gestellt werden; vielmehr ganz allein nur, was es bedeutet, worauf es raten läßt, was hinter ihm, unter ihm, in ihm versteckt liegt, wofür es der vorläufige, undeutliche, mit Fragezeichen und Mißverständnissen überladne Ausdruck ist. Und nur in Hinsicht auf diesen Zweck durfte ich meinen Lesern einen Blick auf das Ungeheure seiner Wirkungen, auch seiner verhängnisvollen Wirkungen nicht ersparen: um sie nämlich zum letzten und furchtbarsten Aspekt vorzubereiten, den die Frage nach der Bedeutung jenes Ideals für mich hat. Was bedeutet eben die Macht jenes Ideals, das Ungeheure seiner Macht? Weshalb ist ihm in diesem Maße Raum gegeben worden? weshalb nicht besser Widerstand geleistet worden? Das asketische Ideal drückt einen Willen aus: wo ist der gegnerische Wille, in dem sich ein gegnerisches Ideal ausdrückte? Das asketische Ideal hat ein Ziel – dasselbe ist allgemein genug, daß alle Interessen des menschlichen Daseins sonst, an ihm gemessen, kleinlich und eng erscheinen; es legt sich Zeiten, Völker, Menschen unerbittlich auf dieses eine Ziel hin aus, es läßt keine andre Auslegung, kein andres Ziel gelten, es verwirft, verneint, bejaht, bestätigt allein im Sinne seiner Interpretation (– und gab es je ein zu Ende gedachteres System von Interpretation?); es unterwirft sich keiner Macht, es glaubt vielmehr an sein Vorrecht vor jeder Macht, an seine unbedingte Rang-Distanz in Hinsicht auf jede Macht – es glaubt daran, daß nichts auf Erden von Macht da ist, das nicht von ihm aus erst[886] einen Sinn, ein Daseins-Recht, einen Wert zu empfangen habe, als Werkzeug zu seinem Werke, als Weg und Mittel zu seinem Ziele, zu einem Ziele... Wo ist das Gegenstück zu diesem geschlossenen System von Wille, Ziel und Interpretation? Warum fehlt das Gegenstück?... Wo ist das andre »eine Ziel«?... Aber man sagt mir, es fehle nicht, es habe nicht nur einen langen glücklichen Kampf mit jenem Ideale gekämpft, es sei vielmehr in allen Hauptsachen bereits über jenes Ideal Herr geworden: unsre ganze moderne Wissenschaft sei das Zeugnis dafür – diese moderne Wissenschaft, welche, als eine eigentliche Wirklichkeits-Philosophie, ersichtlich allein an sich selber glaube, ersichtlich den Mut zu sich, den Willen zu sich besitze und gut genug bisher ohne Gott, Jenseits und verneinende Tugenden ausgekommen sei. Indessen mit solchem Lärm und Agitatoren- Geschwätz richtet man nichts bei mir aus: diese Wirklichkeits-Trompeter sind schlechte Musikanten, ihre Stimmen kommen hörbar genug nicht aus der Tiefe, aus ihnen redet nicht der Abgrund des wissenschaftlichen Gewissens – denn heute ist das wissenschaftliche Gewissen ein Abgrund –, das Wort »Wissenschaft« ist in solchen Trompeter-Mäulern einfach eine Unzucht, ein Mißbrauch, eine Schamlosigkeit. Gerade das Gegenteil von dem, was hier behauptet wird, ist die Wahrheit: die Wissenschaft hat heute schlechterdings keinen Glauben an sich, geschweige ein Ideal über sich – und wo sie überhaupt noch Leidenschaft, Liebe, Glut, Leiden ist, da ist sie nicht der Gegensatz jenes asketischen Ideals, vielmehr dessen jüngste und vornehmste Form selber. Klingt euch das fremd?... Es gibt ja genug braves und bescheidnes Arbeiter-Volk auch unter den Gelehrten von heute, dem sein kleiner Winkel gefällt, und das darum, weil es ihm darin gefällt, bisweilen ein wenig unbescheiden mit der Forderung laut wird, man solle überhaupt heute zufrieden sein, zumal in der Wissenschaft – es gäbe da gerade so viel Nützliches zu tun. Ich widerspreche nicht; am wenigsten möchte ich diesen ehrlichen Arbeitern ihre Lust am Handwerk verderben: denn ich freue mich ihrer Arbeit. Aber damit, daß jetzt in der Wissenschaft streng gearbeitet wird und daß es zufriedne Arbeiter gibt, ist schlechterdings nicht bewiesen, daß die Wissenschaft als ganzes heute ein Ziel, einen Willen, ein Ideal, eine Leidenschaft des großen Glaubens habe. Das Gegenteil, wie gesagt, ist der Fall: wo sie nicht die jüngste Erscheinungsform[887] des asketischen Ideals ist – es handelt sich da um zu seltne, vornehme, ausgesuchte Fälle, als daß damit das Gesamturteil umgebogen werden könnte –, ist die Wissenschaft heute ein Versteck für alle Art Mißmut, Unglauben, Nagewurm, despectio sui, schlechtes Gewissen – sie ist die Unruhe der Ideallosigkeit selbst, das Leiden am Mangel der großen Liebe, das Ungenügen an einer unfreiwilligen Genügsamkeit. O was verbirgt heute nicht alles Wissenschaft! wieviel soll sie mindestens verbergen! Die Tüchtigkeit unsrer besten Gelehrten, ihr besinnungsloser Fleiß, ihr Tag und Nacht rauchender Kopf, ihre Handwerks-Meisterschaft selbst – wie oft hat das alles seinen eigentlichen Sinn darin, sich selbst irgend etwas nicht mehr sichtbar werden zu lassen! Die Wissenschaft als Mittel der Selbst-Betäubung: kennt ihr das?... Man verwundet sie – jeder erfährt es, der mit Gelehrten umgeht – mitunter durch ein harmloses Wort bis auf den Knochen, man erbittert seine gelehrten Freunde gegen sich, im Augenblick, wo man sie zu ehren meint, man bringt sie außer Rand und Band, bloß weil man zu grob war, um zu erraten, mit wem man es eigentlich zu tun hat, mit Leidenden, die es sich selbst nicht eingestehn wollen, was sie sind, mit Betäubten und Besinnungslosen, die nur eins fürchten: zum Bewußtsein zu kommen...
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– Und nun sehe man sich dagegen jene seltneren Fälle an, von denen ich sprach, die letzten Idealisten, die es heute unter Philosophen und Gelehrten gibt: hat man in ihnen vielleicht die gesuchten Gegner des asketischen Ideals, dessen Gegen-Idealisten? In der Tat, sie glauben sich als solche, diese »Ungläubigen« (denn das sind sie allesamt); es scheint gerade das ihr letztes Stück Glaube, Gegner dieses Ideals zu sein, so ernsthaft sind sie an dieser Stelle, so leidenschaftlich wird da gerade ihr Wort, ihre Gebärde – brauchte es deshalb schon wahr zu sein, was sie glauben?... Wir »Erkennenden« sind nachgerade mißtrauisch gegen alle Art Gläubige unser Mißtrauen hat uns allmählich darauf eingeübt, umgekehrt zu schließen, als man ehedem schloß: nämlich überall, wo die Stärke eines Glaubens sehr in den Vordergrund tritt, auf eine gewisse Schwäche der Beweisbarkeit, auf Unwahrscheinlichkeit selbst des Geglaubten zu schließen. Auch wir leugnen nicht, daß der Glaube[888] »selig macht«: eben deshalb leugnen wir, daß der Glaube etwas beweist – ein starker Glaube, der selig macht, ist ein Verdacht gegen das, woran er glaubt, er begründet nicht »Wahrheit«, er begründet eine gewisse Wahrscheinlichkeit – der Täuschung. Wie steht es nun in diesem Falle? – Diese Verneinenden und Abseitigen von heute, diese Unbedingten in einem, im Anspruch auf intellektuelle Sauberkeit, diese harten, strengen, enthaltsamen, heroischen Geister, welche die Ehre unsrer Zeit ausmachen, alle diese blassen Atheisten, Antichristen, Immoralisten, Nihilisten, diese Skeptiker, Ephektiker, Hektiker des Geistes (letzteres sind sie samt und sonders in irgendeinem Sinne), diese letzten Idealisten der Erkenntnis, in denen allein heute das intellektuelle Gewissen wohnt und leibhaft ward – sie glauben sich in der Tat so losgelöst als möglich vom asketischen Ideale, diese »freien, sehr freien Geister«: und doch, daß ich ihnen verrate, was sie selbst nicht sehen können – denn sie stehen sich zu nahe –: dies Ideal ist gerade auch ihr Ideal, sie selbst stellen es heute dar und niemand sonst vielleicht, sie selbst sind seine vergeistigtste Ausgeburt, seine vorgeschobenste Krieger- und Kundschafter-Schar, seine verfänglichste, zarteste, unfaßlichste Verführungsform – wenn ich irgendworin Rätselrater bin, so will ich es mit diesem Satze sein!... Das sind noch lange keine freien Geister: denn sie glauben noch an die Wahrheit...
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