Das heißen sie ›die Seligkeit‹.«
– Weiter!
– »Jetzt geben sie mir zu verstehen, daß sie nicht nur besser seien als die Mächtigen, die Herrn der Erde, deren Speichel sie lecken müssen (nicht aus Furcht, ganz und gar nicht aus Furcht! sondern weil es Gott gebietet, alle Obrigkeit zu ehren) – daß sie nicht nur besser seien, sondern es auch ›besser hätten‹, jedenfalls einmal besser haben würden. Aber genug! genug! Ich halte es nicht mehr aus. Schlechte Luft! Schlechte Luft! Diese Werkstätte, wo man Ideale fabriziert – mich dünkt, sie stinkt vor lauter Lügen.«
– Nein! Noch einen Augenblick! Sie sagten noch nichts von dem Meisterstücke dieser Schwarzkünstler, welche Weiß, Milch und Unschuld aus jedem Schwarz herstellen – haben Sie nicht bemerkt, was ihre Vollendung im Raffinement ist, ihr kühnster, feinster, geistreichster, lügenreichster Artisten-Griff? Geben Sie acht! Diese Kellertiere voll Rache und Haß – was machen sie doch gerade aus Rache und Haß? Hörten Sie je diese Worte? Würden Sie ahnen, wenn Sie nur ihren Worten trauten, daß Sie unter lauter Menschen des Ressentiment sind?...
– »Ich verstehe, ich mache nochmals die Ohren auf (ach! ach! ach! und die Nase zu). Jetzt höre ich erst, was sie so oft schon sagten: ›Wir Guten – wir sind die Gerechten‹ – was sie verlangen, das heißen sie nicht Vergeltung, sondern ›den Triumph der Gerechtigkeit‹; was sie hassen, das ist nicht ihr Feind, nein! sie hassen das ›Unrecht‹, die ›Gottlosigkeit‹; was sie glauben und hoffen, ist nicht die Hoffnung auf Rache, die Trunkenheit der süßen Rache (– ›süßer als Honig‹ nannte sie schon Homer), sondern der Sieg Gottes, des gerechten Gottes über die Gottlosen; was ihnen zu lieben auf Erden übrigbleibt, sind nicht ihre Brüder im Hasse, sondern ihre ›Brüder in der Liebe‹, wie sie sagen, alle Guten und Gerechten auf der Erde.«[792]
– Und wie nennen sie das, was ihnen als Trost wider alle Leiden des Lebens dient – ihre Phantasmagorie der vorweggenommenen zukünftigen Seligkeit?
– »Wie? Höre ich recht? Sie heißen das ›das jüngste Gericht‹, das Kommen ihres Reichs, des ›Reichs Gottes‹ – einstweilen aber leben sie ›im Glauben‹, ›in der Liebe‹, ›in der Hoffnung‹.«
– Genug! Genug!
15
Im Glauben woran? In der Liebe wozu? In der Hoffnung worauf? – Diese Schwachen – irgendwann einmal nämlich wollen auch sie die Starken sein, es ist kein Zweifel, irgendwann soll auch ihr »Reich« kommen – »das Reich Gottes« heißt es schlechtweg bei ihnen, wie gesagt: man ist ja in allem so demütig! Schon um das zu erleben, hat man nötig, lange zu leben, über den Tod hinaus – ja man hat das ewige Leben nötig, damit man sich auch ewig im »Reiche Gottes« schadlos halten kann für jenes Erden-Leben »im Glauben, in der Liebe, in der Hoffnung«. Schadlos wofür? Schadlos wodurch?... Dante hat sich, wie mich dünkt, gröblich vergriffen, als er, mit einer schreckeneinflößenden Ingenuität, jene Inschrift über das Tor zu seiner Hölle setzte »auch mich schuf die ewige Liebe« – über dem Tore des christlichen Paradieses und seiner »ewigen Seligkeit« würde jedenfalls mit besserem Rechte die Inschrift stehen dürfen »auch mich schuf der ewige Haß« – gesetzt, daß eine Wahrheit über dem Tor zu einer Lüge stehen dürfte! Denn was ist die Seligkeit jenes Paradieses?... Wir würden es vielleicht schon erraten; aber besser ist es, daß es uns eine in solchen Dingen nicht zu unterschätzende Autorität ausdrücklich bezeugt, Thomas von Aquino, der große Lehrer und Heilige. »Beati in regno coelesti«, sagt er sanft wie ein Lamm, »videbunt poenas damnatorum, ut beatitudo illis magis complaceat.« Oder will man es in einer stärkeren Tonart hören, etwa aus dem Munde eines triumphierenden Kirchenvaters, der seinen Christen die grausamen Wollüste der öffentlichen Schauspiele widerriet – warum doch? »Der Glaube bietet uns ja viel mehr« – sagt er, de spectac. c. 29 ss. – »viel Stärkeres; dank der Erlösung stehen uns ja ganz andre Freuden zu Gebote; an Stelle der Athleten[793] haben wir unsre Märtyrer; wollen wir Blut, nun, so haben wir das Blut Christi... Aber was erwartet uns erst am Tage seiner Wiederkunft, seines Triumphes!« – und nun fährt er fort, der entzückte Visionär: »At enim supersunt alia spectacula, ille ultimus et perpetuus judicii dies, ille nationibus insperatus, ille derisus, cum tanta saeculi vetustas et tot ejus nativitates uno igne haurientur. Quae tunc spectaculi latitudo! Quid admirer! Quid rideam! Ubi gaudeam! Ubi exultem, spectans tot et tantos reges, qui in coelum recepti nuntiabantur, cum ipso Jove et ipsis suis testibus in imis tenebris congemescentes! Item praesides« (die Provinzialstatthalter) »persecutores dominici nominis saevioribus quam ipsi flammis saevierunt insultantibus contra Christianos liquescentes! Quos praeterea sapientes illos philosophos coram discipulis suis una conflagrantibus erubescentes, quibus nihil ad deum pertinere suadebant, quibus animas aut nullas aut non in pristina corpora redituras afirmabant! Etiam poëtas non ad Rhadamanti nec ad Minois, sed ad inopinati Christi tribunal palpitantes! Tunc magis tragoedi audiendi, magis scilicet vocales« (besser bei Stimme, noch ärgere Schreier) »in sua propria calamitate; tunc histriones cognoscendi, solutiores multo per ignem; tunc spectandus auriga in flammea rota totus rubens, tunc xystici contemplandi non in gymnasiis, sed in igne jaculati, nisi quod ne tunc quidem illos velim vivos, ut qui malim ad eos potius conspectum insatiabilem conferre, qui in dominum desaevierunt. ›Hic est ille‹, dicam, ›fabri aut quaestuariae filius‹« (wie alles Folgende und insbesondere auch diese aus dem Talmud bekannte Bezeichnung der Mutter Jesu zeigt, meint Tertullian von hier ab die Juden), »›sabbati destructor, Samarites et daemonium habens. Hic est, quem a Juda redemistis, hic est ille arundine et colaphis diverberatus, sputamentis dedecoratus, felle et aceto potatus. Hic est, quem clam discentes subripuerunt, ut resurrexisse dicatur vel hortulanus detraxit, ne lactucae suae frequentia commeantium laederentur.‹ Ut talia spectes, ut talibus exultes, quis tibi praetor aut consul aut quaestor aut sacerdos de sua liberalitate praestabit? Et tamen haec jam habemus quodammodo per fidem spiritu imaginante repraesentata. Ceterum qualia illa sunt, quae nec oculus vidit nec auris audivit nec in cor hominis ascenderunt?« (1. Kor. 2, 9.) »Credo circo et utraque cavea« (erster und vierter Rang oder, nach anderen, komische und tragische Bühne) »et omni stadio gratiora.« – Per fidem: so steht's geschrieben.[794]
16
Kommen wir zum Schluß. Die beiden entgegengesetzten Werte »gut und schlecht«, »gut und böse« haben einen furchtbaren, jahrtausendelangen Kampf auf Erden gekämpft; und so gewiß auch der zweite Wert seit langem im Übergewichte ist, so fehlt es doch auch jetzt noch nicht an Stellen, wo der Kampf unentschieden fortgekämpft wird. Man könnte selbst sagen, daß er inzwischen immer höher hinauf getragen und eben damit immer tiefer, immer geistiger geworden sei: so daß es heute vielleicht kein entscheidenderes Abzeichen der »höheren Natur«, der geistigeren Natur gibt, als zwiespältig in jenem Sinne und wirklich noch ein Kampfplatz für jene Gegensätze zu sein. Das Symbol dieses Kampfes, in einer Schrift geschrieben, die über alle Menschengeschichte hinweg bisher lesbar blieb, heißt »Rom gegen Judäa, Judäa gegen Rom«: – es gab bisher kein größeres Ereignis als diesen Kampf, diese Fragestellung, diesen todfeindlichen Widerspruch. Rom empfand im Juden etwas wie die Widernatur selbst, gleichsam sein antipodisches Monstrum; in Rom galt der Jude »des Hasses gegen das ganze Menschengeschlecht überführt«: mit Recht, sofern man ein Recht hat, das Heil und die Zukunft des Menschengeschlechts an die unbedingte Herrschaft der aristokratischen Werte, der römischen Werte anzuknüpfen. Was dagegen die Juden gegen Rom empfunden haben? Man errät es aus tausend Anzeichen; aber es genügt, sich einmal wieder die Johanneische Apokalypse zu Gemüte zu führen, jenen wüstesten aller geschriebenen Ausbrüche, welche die Rache auf dem Gewissen hat. (Unterschätze man übrigens die tiefe Folgerichtigkeit des christlichen Instinktes nicht, als er gerade dieses Buch des Hasses mit dem Namen des Jüngers der Liebe überschrieb, desselben, dem er jenes verliebt-schwärmerische Evangelium zu eigen gab –: darin steckt ein Stück Wahrheit, wieviel literarische Falschmünzerei auch zu diesem Zwecke nötig gewesen sein mag.) Die Römer waren ja die Starken und Vornehmen, wie sie stärker und vornehmer bisher auf Erden nie dagewesen, selbst niemals geträumt worden sind; jeder Überrest von ihnen, jede Inschrift entzückt, gesetzt daß man errät, was da schreibt. Die Juden umgekehrt waren jenes priesterliche Volk des Ressentiment par excellence, dem eine volkstümlich-moralische Genialität sondergleichen[795] innewohnte: man vergleiche nur die verwandt-begabten Völker, etwa die Chinesen oder die Deutschen, mit den Juden, um nachzufühlen, was ersten und was fünften Ranges ist. Wer von ihnen einstweilen gesiegt hat, Rom oder Judäa? Aber es ist ja gar kein Zweifel: man erwäge doch, vor wem man sich heute in Rom selber als vor dem Inbegriff aller höchsten Werte beugt – und nicht nur in Rom, sondern fast auf der halben Erde, überall wo nur der Mensch zahm geworden ist oder zahm werden will –, vor drei Juden, wie man weiß, und einer Jüdin (vor Jesus von Nazareth, dem Fischer Petrus, dem Teppichwirker Paulus und der Mutter des anfangs genannten Jesus, genannt Maria). Dies ist sehr merkwürdig: Rom ist ohne allen Zweifel unterlegen. Allerdings gab es in der Renaissance ein glanzvoll-unheimliches Wiederaufwachen des klassischen Ideals, der vornehmen Wertungsweise aller Dinge: Rom selber bewegte sich wie ein aufgeweckter Scheintoter unter dem Druck des neuen, darüber gebauten judaisierten Rom, das den Aspekt einer ökumenischen Synagoge darbot und »Kirche« hieß: aber sofort triumphierte wieder Judäa, dank jener gründlich pöbelhaften (deutschen und englischen) Ressentiment-Bewegung, welche man die Reformation nennt, hinzugerechnet, was aus ihr folgen mußte, die Wiederherstellung der Kirche – die Wiederherstellung auch der alten Grabesruhe des klassischen Rom. In einem sogar entscheidenderen und tieferen Sinne als damals kam Judäa noch einmal mit der französischen Revolution zum Siege über das klassische Ideal: die letzte politische Vornehmheit, die es in Europa gab, die des siebzehnten und achtzehnten französischen Jahrhunderts, brach unter den volkstümlichen Ressentiment-Instinkten zusammen – es wurde niemals auf Erden ein größerer Jubel, eine lärmendere Begeisterung gehört! zwar geschah mitten darin das Ungeheuerste, das Unerwartetste: das antike Ideal selbst trat leibhaft und mit unerhörter Pracht vor Auge und Gewissen der Menschheit – und noch einmal, stärker, einfacher, eindringlicher als je, erscholl, gegenüber der alten Lügen-Losung des Ressentiment vom Vorrecht der Meisten, gegenüber dem Willen zur Niederung, zur Erniedrigung, zur Ausgleichung, zum Abwärts und Abendwärts des Menschen, die furchtbare und entzückende Gegenlosung vom Vorrecht der Wenigsten! Wie ein letzter Fingerzeig zum andren Wege erschien Napoleon, jener einzelnste und spätestgeborne[796] Mensch, den es jemals gab, und in ihm das fleischgewordne Problem des vornehmen Ideals an sich – man überlege wohl, was es für ein Problem ist: Napoleon, diese Synthesis von Unmensch und Übermensch...
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– War es damit vorbei? Wurde jener größte aller Ideal-Gegensätze damit für alle Zeiten ad acta gelegt? Oder nur vertagt, auf lange vertagt?...
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