Gesetzt daß es wahr wäre, was jetzt jedenfalls als »Wahrheit« geglaubt wird, daß es eben der Sinn aller Kultur sei, aus dem Raubtiere »Mensch« ein zahmes und zivilisiertes Tier, ein Haustier herauszuzüchten, so müßte man unzweifelhaft alle jene Reaktions- und Ressentiment-Instinkte, mit deren Hilfe die vornehmen Geschlechter samt ihren Idealen schließlich zuschanden gemacht und überwältigt worden sind, als die eigentlichen Werkzeuge der Kultur betrachten; womit allerdings noch nicht gesagt wäre, daß deren Träger zugleich auch selber die Kultur darstellten. Vielmehr wäre das Gegenteil nicht nur wahrscheinlich – nein! es ist heute augenscheinlich! Diese Träger der niederdrückenden und vergeltungslüsternen Instinkte, die Nachkommen alles europäischen und nichteuropäischen Sklaventums, aller vorarischen Bevölkerung insonderheit – sie stellen den Rückgang der Menschheit dar! Diese »Werkzeuge der Kultur« sind eine Schande des Menschen, und eher ein Verdacht, ein Gegenargument gegen »Kultur« überhaupt! Man mag im besten Rechte sein, wenn man vor der blonden Bestie auf dem Grunde aller vornehmen Rassen die Furcht nicht los wird und auf der Hut ist; aber wer möchte nicht hundertmal lieber sich fürchten, wenn er zugleich bewundern darf, als sich nicht fürchten, aber dabei den ekelhaften Anblick des Mißratenen, Verkleinerten, Verkümmerten, Vergifteten nicht mehr loswerden können? Und ist das nicht unser Verhängnis? Was macht heute unsern Widerwillen gegen »den Menschen«? – denn wir leiden am Menschen, es ist kein Zweifel. – Nicht[787] die Furcht; eher, daß wir nichts mehr am Menschen zu fürchten haben; daß das Gewürm »Mensch« im Vordergrunde ist und wimmelt; daß der »zahme Mensch«, der Heillos-Mittelmäßige und Unerquickliche bereits sich als Ziel und Spitze, als Sinn der Geschichte, als »höheren Menschen« zu fühlen gelernt hat – ja daß er ein gewisses Recht darauf hat, sich so zu fühlen, insofern er sich im Abstande von der Überfülle des Mißratenen, Kränklichen, Müden, Verlebten fühlt, nach dem heute Europa zu stinken beginnt, somit als etwas wenigstens relativ Geratenes, wenigstens noch Lebensfähiges, wenigstens zum Leben Ja-sagendes...

 

12

– Ich unterdrücke an dieser Stelle einen Seufzer und eine letzte Zuversicht nicht. Was ist das gerade mir ganz Unerträgliche? Das, womit ich allein nicht fertig werde, was mich ersticken und verschmachten macht? Schlechte Luft! Schlechte Luft! Daß etwas Mißratenes in meine Nähe kommt; daß ich die Eingeweide einer mißratenen Seele riechen muß!... Was hält man sonst nicht aus von Not, Entbehrung, bösem Wetter, Siechtum, Mühsal, Vereinsamung? Im Grunde wird man mit allem übrigen fertig, geboren wie man ist zu einem unterirdischen und kämpfenden Dasein; man kommt immer wieder einmal ans Licht, man erlebt immer wieder seine goldene Stunde des Siegs- und dann steht man da, wie man geboren ist, unzerbrechbar, gespannt, zu Neuem, zu noch Schwererem, Fernerem bereit, wie ein Bogen, den alle Not immer nur noch straffer anzieht. – Aber von Zeit zu Zeit gönnt mir – gesetzt, daß es himmlische Gönnerinnen gibt, jenseits von Gut und Böse – einen Blick, gönnt mir einen Blick nur auf etwas Vollkommnes, zu-Ende-Geratenes, Glückliches, Mächtiges, Triumphierendes, an dem es noch etwas zu fürchten gibt! Auf einen Menschen, der den Menschen rechtfertigt, auf einen komplementären und erlösenden Glücksfall des Men schen, um deswillen man den Glauben an den Menschen festhalten darf!.. Denn so steht es: die Verkleinerung und Ausgleichung des europäischen Menschen birgt unsre größte Gefahr, denn dieser Anblick macht müde... Wir sehen heute nichts, das größer werden will, wir ahnen, daß es immer noch abwärts, abwärts geht, ins Dünnere, Gutmütigere, Klügere, Behaglichere, Mittelmäßigere,[788] Gleichgültigere, Chinesischere, Christlichere – der Mensch, es ist kein Zweifel, wird immer »besser«... Hier eben liegt das Verhängnis Europas – mit der Furcht vor dem Menschen haben wir auch die Liebe zu ihm, die Ehrfurcht vor ihm, die Hoffnung auf ihn, ja den Willen zu ihm eingebüßt. Der Anblick des Menschen macht nunmehr müde – was ist heute Nihilismus, wenn er nicht das ist?... Wir sind des Menschen müde...

 

13

– Doch kommen wir zurück: das Problem vom andren Ursprung des »Guten«, vom Guten, wie ihn der Mensch des Ressentiment sich ausgedacht hat, verlangt nach seinem Abschluß. – Daß die Lämmer den großen Raubvögeln gram sind, das befremdet nicht: nur liegt darin kein Grund, es den großen Raubvögeln zu verargen, daß sie sich kleine Lämmer holen. Und wenn die Lämmer unter sich sagen »diese Raubvögel sind böse; und wer so wenig als möglich ein Raubvogel ist, vielmehr deren Gegenstück, ein Lamm – sollte der nicht gut sein?« so ist an dieser Aufrichtung eines Ideals nichts auszusetzen, sei es auch, daß die Raubvögel dazu ein wenig spöttisch blicken werden und vielleicht sich sagen: »wir sind ihnen gar nicht gram, diesen guten Lämmern, wir lieben sie sogar: nichts ist schmackhafter als ein zartes Lamm.« – Von der Stärke verlangen, daß sie sich nicht als Stärke äußere, daß sie nicht ein Überwältigen-Wollen, ein Niederwerfen-Wollen, ein Herrwerden-Wollen, ein Durst nach Feinden und Widerständen und Triumphen sei, ist gerade so widersinnig als von der Schwäche verlangen, daß sie sich als Stärke äußere. Ein Quantum Kraft ist ein ebensolches Quantum Trieb, Wille, Wirken – vielmehr, es ist gar nichts anderes als ebendieses Treiben, Wollen, Wirken selbst, und nur unter der Verführung der Sprache (und der in ihr versteinerten Grundirrtümer der Vernunft), welche alles Wirken als bedingt durch ein Wirkendes, durch ein »Subjekt« versteht und mißversteht, kann es anders erscheinen. Ebenso nämlich, wie das Volk den Blitz von seinem Leuchten trennt und letzteres als Tun, als Wirkung eines Subjekts nimmt, das Blitz heißt, so trennt die Volks-Moral auch die Stärke von den Äußerungen der Stärke ab, wie als ob es hinter dem[789] Starken ein indifferentes Substrat gäbe, dem es freistünde, Stärke zu äußern oder auch nicht. Aber es gibt kein solches Substrat; es gibt kein »Sein« hinter dem Tun, Wirken, Werden; »der Täter« ist zum Tun bloß hinzugedichtet – das Tun ist alles. Das Volk verdoppelt im Grunde das Tun, wenn es den Blitz leuchten läßt, das ist ein Tun-Tun: es setzt dasselbe Geschehen einmal als Ursache und dann noch einmal als deren Wirkung. Die Naturforscher machen es nicht besser, wenn sie sagen »die Kraft bewegt, die Kraft verursacht« und dergleichen – unsre ganze Wissenschaft steht noch, trotz aller ihrer Kühle, ihrer Freiheit vom Affekt, unter der Verführung der Sprache und ist die untergeschobnen Wechselbälge, die »Subjekte« nicht losgeworden (das Atom ist zum Beispiel ein solcher Wechselbalg, insgleichen das Kantische »Ding an sich«): was Wunder, wenn die zurückgetretenen, versteckt glimmenden Affekte Rache und Haß diesen Glauben für sich ausnützen und im Grunde sogar keinen Glauben inbrünstiger aufrechterhalten als den, es stehe dem Starken frei, schwach, und dem Raubvogel, Lamm zu sein – damit gewinnen sie ja bei sich das Recht, dem Raubvogel es zuzurechnen, Raubvogel zu sein... Wenn die Unterdrückten, Niedergetretenen, Vergewaltigten aus der rachsüchtigen List der Ohnmacht heraus sich zureden: »laßt uns anders sein als die Bösen, nämlich gut! Und gut ist jeder, der nicht vergewaltigt, der niemanden verletzt, der nicht angreift, der nicht vergilt, der die Rache Gott übergibt, der sich wie wir im Verborgnen hält, der allem Bösen aus dem Wege geht und wenig überhaupt vom Leben verlangt, gleich uns, den Geduldigen, Demütigen, Gerechten« – so heißt das, kalt und ohne Voreingenommenheit angehört, eigentlich nichts weiter als: »wir Schwachen sind nun einmal schwach; es ist gut, wenn wir nichts tun, wozu wir nicht stark genug sind«; aber dieser herbe Tatbestand, diese Klugheit niedrigsten Ranges, welche selbst Insekten haben (die sich wohl totstellen, um nicht »zu viel« zu tun, bei großer Gefahr), hat sich dank jener Falschmünzerei und Selbstverlogenheit der Ohnmacht in den Prunk der entsagenden stillen abwartenden Tugend gekleidet, gleich als ob die Schwäche des Schwachen selbst – das heißt doch sein Wesen, sein Wirken, seine ganze einzige unvermeidliche, unablösbare Wirklichkeit – eine freiwillige Leistung, etwas Gewolltes, Gewähltes, eine Tat, ein Verdienst sei. Diese Art Mensch hat den Glauben an das[790] indifferente wahlfreie »Subjekt« nötig aus einem Instinkte der Selbsterhaltung, Selbstbejahung heraus, in dem jede Lüge sich zu heiligen pflegt. Das Subjekt (oder, daß wir populärer reden, die Seele) ist vielleicht deshalb bis jetzt auf Erden der beste Glaubenssatz gewesen, weil er der Überzahl der Sterblichen, den Schwachen und Niedergedrückten jeder Art, jene sublime Selbstbetrügerei ermöglichte, die Schwäche selbst als Freiheit, ihr So- und So-sein als Verdienst auszulegen.

 

14

– Will jemand ein wenig in das Geheimnis hinab- und hinuntersehn, wie man auf Erden Ideale fabriziert? Wer hat den Mut dazu?... Wohlan! Hier ist der Blick offen in diese dunkle Werkstätte. Warten Sie noch einen Augenblick, mein Herr Vorwitz und Wagehals: Ihr Auge muß sich erst an dieses falsche schillernde Licht gewöhnen... So! Genug! Reden Sie jetzt! Was geht da unten vor? Sprechen Sie aus, was Sie sehen, Mann der gefährlichsten Neugierde – jetzt bin ich der, welcher zuhört. –

– »Ich sehe nichts, ich höre um so mehr. Es ist ein vorsichtiges tückisches leises Munkeln und Zusammenflüstern aus allen Ecken und Winkeln. Es scheint mir, daß man lügt; eine zuckrige Milde klebt an jedem Klange. Die Schwäche soll zum Verdienste umgelogen werden, es ist kein Zweifel – es steht damit so, wie Sie es sagten« –

– Weiter!

– »und die Ohnmacht, die nicht vergilt, zur ›Güte‹; die ängstliche Niedrigkeit zur ›Demut‹; die Unterwerfung vor denen, die man haßt, zum ›Gehorsam‹ (nämlich gegen einen, von dem sie sagen, er befehle diese Unterwerfung – sie heißen ihn Gott). Das Unoffensive des Schwachen, die Feigheit selbst, an der er reich ist, sein An-der-Tür-stehn, sein unvermeidliches Warten-müssen kommt hier zu guten Namen, als ›Geduld‹, es heißt auch wohl die Tugend; das Sich-nicht-rächen-Können heißt Sich-nicht-rächen-Wollen, vielleicht selbst Verzeihung (›denn sie wissen nicht, was sie tun – wir allein wissen es, was sie tun!‹). Auch redet man von der ›Liebe zu seinen Feinden‹ – und schwitzt dabei.«

– Weiter![791]

– »Sie sind elend, es ist kein Zweifel, alle diese Munkler und Winkel-Falschmünzer, ob sie schon warm beieinander hocken – aber sie sagen mir, ihr Elend sei eine Auswahl und Auszeichnung Gottes, man prügele die Hunde, die man am liebsten habe; vielleicht sei dies Elend auch eine Vorbereitung, eine Prüfung, eine Schulung, vielleicht sei es noch mehr – etwas, das einst ausgeglichen und mit ungeheuren Zinsen in Gold, nein! in Glück ausgezahlt werde.