Lieutenant Maury hat sie ganz speciell der Aufmerksamkeit der Schifffahrer empfohlen. Der Duncan schien über eine große Wiese hinzugleiten, welche Paganel ganz richtig mit den Pampas verglich, und die seinen Lauf etwas verzögerte.
Vierundzwanzig Stunden später, bei Tagesanbruch, rief die Stimme des auslugenden Matrosen:
»Land! Land!
– In welcher Richtung? fragte Tom Austin, der die Wache hatte.
– Unter dem Winde«, erwiderte der Matrose.
Auf diesen immer aufregenden Zuruf hin bevölkerte sich plötzlich das Verdeck. Bald streckte sich am Oberdeck ein Fernrohr aus, dem Jacques Paganel unmittelbar nachfolgte.
Der Gelehrte sah in der angegebenen Richtung durch sein Instrument, konnte aber Nichts, was einem Lande ähnlich war, bemerken.
– Sehen Sie mehr nach den Wolken, sagte John Mangles zu ihm.
– Wirklich, erwiderte Paganel, man würde eine Art fast noch unbemerkbaren Pic zu sehen glauben.
– Das ist Tristan d'Acunha, antwortete John Mangles.
– Nun, wenn mein Gedächtniß treu ist, fuhr Paganel fort, müssen wir gegen achtzig Meilen davon entfernt sein, denn der Pic von Tristan ist bei einer Höhe von siebentausend Fuß so weit sichtbar.
–- Ganz richtig«, erwiderte Kapitän John Mangles.
Wenige Stunden später wurde die sehr hohe und sehr zerklüftete Inselgruppe am Horizonte vollkommen sichtbar. Die kegelförmige Kuppe von Tristan hob sich schwarz von dem glänzenden Himmel ab, der in der Farbenpracht der aufgehenden Sonne schimmerte. Bald sonderte sich auch an der Spitze eines nach Nordosten gerichteten Dreiecks die Hauptinsel von der Felsmasse ab. Tristan d'Acunha liegt unter 37° 8' südlicher Breite und 10° 44' östlicher Länge von Greenwich.[Fußnote: 13° 4' östlich von Paris. Diese beiden ersten Meridiane differiren um 2° 20'.] Achtzehn Meilen im Südwesten vervollständigt die Insel Inaccessible, und zehn Meilen im Südosten die Insel Rossignol die kleine in diesem Theile des Atlantischen Oceans gelegene Gruppe. Gegen Mittag kamen die beiden hauptsächlichsten Merkzeichen, welche den Seeleuten als Orientirungspunkte dienen, in Sicht, nämlich an einem Winkel der Insel Inaccessible, ein Felsen, der genau ein Fahrzeug unter Segel darstellt, und an der nördlichen Ecke der Insel Rossignol zwei kleine Eilande, die einem verfallenen Fort gleichen. Um drei Uhr lief der Duncan in die Bai Falmouth auf Tristan d'Acunha ein, die das Vorgebirge Help oder der guten Hilfe vor den Westwinden beschützt.
Dort lagen einige Wallfischfänger vor Anker, die mit dem Fange von Robben und dem anderer Seethiere, von denen unzählige Arten sich an den Küsten aufhielten, beschäftigt waren.
John Mangles suchte einen guten Ankergrund zu finden, denn diese offenen Rheden sind wegen der Windstöße aus Nordwesten und Norden sehr gefährlich, und genau an dieser Stelle ging im Jahre 1829 die englische Brigg Julia mit Mann und Maus zu Grunde.
Bis auf eine halbe Meile näherte sich der Duncan dem Ufer, und warf bei zwanzig Faden auf felsigem Grunde Anker. Sogleich schifften sich die weiblichen und männlichen Passagiere im großen Boote ein und betraten am Strande einen feinen, schwarzen Sandboden, der aus verwitterten Felsen der Insel bestand.
Der Hauptort der ganzen Inselgruppe Tristan d'Acunha besteht aus einem kleinen Dorfe, das im Hintergrunde der Bai an einem lebhaft rauschenden Bache liegt. Dort befanden sich etwa ein halbes hundert recht sauberer Häuschen, die mit jener geometrischen Regelmäßigkeit angeordnet waren, welche in der englischen Architektur immer das letzte Wort zu sprechen scheint.
Hinter diesem Miniaturstädtchen dehnten sich Ebenen etwa auf fünfzehnhundert Hectaren aus, die mit einem ungeheuren Schuttwall von Lava umgeben waren. Ueber diesem Plateau erhob sich die kegelförmige Kuppe bis auf siebentausend Fuß in die Luft.
Lord Glenarvan wurde von einem Gouverneur empfangen, der von der englischen Capcolonie abhängig ist. Er stellte sogleich seine Fragen wegen Harry Grant's und der Britannia. Diese Namen waren vollkommen unbekannt. Die Inseln Tristan d'Acunha liegen abseits der Schiffscourse und werden in Folge dessen sehr wenig besucht. Seit dem berühmten Schiffbruch des Blendon-Hall, der 1821 an den Felsen der Insel Inaccessible zerschellte, hatten nur zwei Fahrzeuge an der Hauptinsel Schiffbruch gelitten, nämlich 1845 der Primauguet und 1857 der amerikanische Dreimaster Philadelphia. Die Acunha'sche Statistik der Seeunfälle beschränkte sich auf diese drei Katastrophen.
Glenarvan erwartete gar nicht, genauere Nachrichten zu erhalten und fragte den Gouverneur überhaupt nur mehr zur Beruhigung seines Gewissens. Die Schiffsboote sandte er auf eine Fahrt um die Insel, deren Umfang höchstens siebenzehn Meilen betragen mochte, aus. London oder Paris hätten darauf nicht Platz gehabt, und wenn sie dreimal so groß gewesen wäre.
Während dieser Recognoscirung gingen die Passagiere des Duncan in dem Dorfe und auf der angrenzenden Küste spazieren. Die Bevölkerung von Tristan d'Acunha übersteigt nicht hundertfünfzig Seelen. Sie bestehen aus Engländern und Amerikanern, welche mit Negerinnen oder Hottentottenweibern vom Cap verheiratet waren, deren Frauen an Häßlichkeit Nichts zu wünschen übrig lassen. Die Kinder aus diesen ungleichartigen Verbindungen zeigten eine sehr unangenehme Mischung der angelsächsischen Steifheit und der afrikanischen Schwärze.
Diese Promenade der Touristen, denen es wohl that, festes Land unter den Füßen zu haben, dehnte sich an dem Ufer hin aus, an welche die große Fläche cultivirten Bodens grenzt, der nur in diesem Theile der Insel vorkommt. An jedem andern Punkte bildet die Küste ein steiles, zerklüftetes und dürres Gestade aus Lavamassen. Dort zählt man ungeheure Albatrosse und die schwerfälligen Pinguins nach Hunderten.
Nachdem die Besucher diese Felsen vulkanischen Ursprungs untersucht hatten, wendeten sie sich nach der Ebene zurück. Sprudelnde zahlreiche Quellen, genährt von dem ewigen Schnee des Kegelbergs, murmelten da und dort; grüne Gebüsche, auf denen das Auge fast ebensoviel Sperlinge als Blatter zählte, schmückten den Boden; eine einzige Baumart, eine Phylica, welche zwanzig Fuß hoch wird, und der »Tusseh«, eine gigantische Arundinacee mit holzigem Stamme, sproßten aus dem grünenden Weidegrund empor; eine rebenartige Azene, starte Lomarien mit verwickelten Filamenten, einige strauchartige Pflanzen, Ancerinen, deren balsamische Düfte die Luft mit durchdringendem Wohlgeruch erfüllten, Moose, wilder Sellerie und Farrnkräuter bildeten eine wenig artenreiche, aber üppige Flora. Man fühlte, daß ein ewiger Frühling seinen wohlthätigen Einfluß auf dieser bevorzugten Insel geltend machte. Paganel behauptete in seiner gewöhnlichen Begeisterung, daß diese Insel das von Fénélon besungene berühmte Ogygia sei. Er schlug Lady Glenarvan vor, sich eine Grotte aufzusuchen, es der liebenswürdigen Kalypse nachzuthun, und wünschte für sich keinen andern Dienst, als »eine der Nymphen zu sein, die ihr aufwarten.«
So kehrten die Spaziergänger, unter Geplauder und Bewunderung, mit sinkender Nacht zur Yacht zurück. In der Nähe des Dorfes zogen Heerden von Rindern und Schafen vorbei; die Klee- und Maisfelder und die seit vierzig Jahren eingeführten Küchenpflanzen erstreckten ihre Naturreichthümer bis in die Straßen der Hauptstadt.
Eben als Lord Glenarvan an Bord zurückkehrte, legten auch die Boote des Duncan wieder bei der Yacht an. In wenigen Stunden hatten sie ihre Fahrt um die Insel ausgeführt, auf ihrem Wege aber keine Spur von der Britannia entdeckt.
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