Die besten hatten gutmütig gelacht. Auch das mit Herrn Dietrich und dem Frühling fiel Lola wieder ein: und nun bedeckte sie, im verschlossenen Schlafzimmer, die Augen mit den Händen, glühend rot durch diese vor Jahren gesprochenen Worte. Plötzlich richtete sie sich auf.

„Und ich bin doch so!” sagte sie laut vor sich hin, und:

„Auch ich habe mein Recht!”

Sie überlegte:

   ,Sollte alles daher kommen, daß ich aus einem andern Lande bin? Wenn im Sommer alle stöhnen, dann wird mir erst wohl. Natürlich: ich gehöre gar nicht hierher! Oh, zu Hause, wieviel schöner war es zu Hause!1

   Irgendein glänzendes Bild aus Kindertagen war ihr unvermutet durch den Sinn geschossen; sie hielt den Atem an: es war fort. Durch Nachdenken wollte sie ihre Gefühle von einst zurückbannen: es kam nichts; und als sie endlich eines zu halten meinte, war es nur die Erinnerung an eine Ansicht aus den Tropen, die sie kürzlich in einer Zeitschrift gesehen hatte. Klagend trat sie ans Fenster, die Schultern hochgezogen, als träfe sie der kalte Regen, der gegen die Scheibe schlug.

   ,Hier bin ich nicht heimisch geworden; und das, was meine Heimat war, habe ich vergessen. Wohin gehöre ich denn? Drüben hatte ich meine Familie und meine Freunde. Drüben verstanden alle mich. Drüben war ich glücklich.’

  Und bittere Gedanken richteten sich gegen den Vater, der sie losgerissen und verbannt hatte.

,Warum grade mich? Nene hat dort bleiben dürfen. Pai kann mich niemals liebgehabt haben!’

   Lola überdachte seine Briefe und fand sie kalt. Gleichwohl schrieb Herr Gabriel ihr jeden zweiten Monat; und nur sein besonnener kaufmännischer Stil war schuld, daß seine Sätze kühl klangen. Lola war nicht gestimmt, die Liebe zu fühlen, die hinter den Worten bebte.

   ,Niemals hat er mich besucht, in all den Jahren! Und wie grausam ist er gegen Mai gewesen! Mai, die weinte und mich festhalten wollte, als der große Schwarze mich forttrug!’

   Das ganze phantastische Grausen jener Sturmnacht entstand noch einmal in Lola; und mit der Kinderangst von einst wallte Sehnsucht auf:

   „Mai!”

   Die Arme ausgestreckt :

   „Mai! Mai!”

   Ein weißer, glänzender Nebel erschien vor Lolas Augen und, weich darumgelegt, ein Rahmen aus dunklem Haar. Lola wollte Züge hervorlocken: der Nebel blieb leer; er drohte wegzufließen. Sie flüsterte bange Koseworle, hielt in ekstatischer Beschwörung dem Phantom ihrer Mutler die Lippen hin: umsonst. Lolas Krall war aus und das Bild zerronnen.

   Sie ergab sich nicht; sie suchte, mit einem Blick der Not, nach Hilfe umher, nach einem Anhalt - und traf auf eine alte Schreibmappe. „Mais Brief!” Sic wühlte ihn heraus, legte aufschluchzend ihre Wange in das alte Papier. „Das kommt von Mai!” Jeder dieser kleinen flüchtigen Buchstaben war ein Geschenk von Mai an Lola. Sie Ins darüber hin, lange Zeit. Dann enträtselte sie, mit Hilfe des Französischen, einige Worte. Dann sprach sie sie laut, fügte andere hinzu und horchte jedem nach, mit offenem Mund und seitwärts gewendeten Augen. Dazwischen erregtes Lachen: ja, so klang es. Ein Jubelruf: das war Mais Stimme! So sagte Mai dies! Oh, und dies war die schwarze Anna; und dies - Die Namen ehemaliger Freundinnen klangen mit; ein Gesicht sprang aus einer Silbe, eine Begebenheit. Lola wußte nicht mehr, wohin sie lauschen sollte. Ihr Geist stürzte hinter alledem her, nach allen Seiten, wie ein Kind hinter Schmetterlingen. Minutenlang war sie glücklich. Schließlich zerflatterte alles; - aber Lola war nun gewiß: ,Tch muß hinüber! Oh, gleich, gleich an Pai schreiben!’ Sie setzte sich daran, wollte schmeicheln, Pai günstig stimmen, und fand vor fieberhaftem Drängen keine Worte. ,Kann ich nicht telegraphieren? Kann ich nicht fliehen? Sofort? Sofort?’ Sie irrte, hochatmend, durchs Zimmer. Notdürftig gesammelt, schrieb sie:

   „Lieber Pai, darf ich jetzt nicht bald zu Euch zurück? Du wolltest wohl, daß ich hier etwas lernen sollte. Ich kann Dir versichern, ich habe schon viel gelernt.”

   Was sagte dies! Gegenüber erblickte sie ihr Spiegelbild in einem fremden Baum: in dem Baum, der sie seit sieben Jahren umfing und nun aussah wie ein Zufallsquartier zum Ubernachten. Sie dachte ihr Gesicht neben denen draußen, ringsumher: lauter Gesichter mit anderen Wesenszügen, geformt von einem fremden Blut.