Es ist mir aber ganz ernst.”
„Um so schlimmer”, sagte Erneste, polternd vor Schrekken. „Ge h ins Klassenzimmer und erwarte, welche Strafarbeit ich dir aufgeben werde!”
„Ich will alle Strafarbeiten machen, die du mir aufgibst, Erneste. Aber ich bin fest entschlossen, Schauspielerin zu werden.”
Lola redete das wie ein Diktat; irgendeine Macht weihte sie zum Sprechen.
„Es ist das erste Mal, daß ich so zu dir spreche, Erneste: daraus kannst du ersehen, wie wichtig dies ist”, sagte sie sanft, mit feuchten Augen; denn Ernesle tat ihr leid. Erneste war auf einen Holzschemel gefallen; ihre von Fruchtsaft blauen Finger lagen wie tote kleine Soldaten durcheinander im Schoß; ihr Gesicht war ganz lang und über alle Maßen verstört.
„Was kannst du denn auch dagegen haben”, meinte Lola, „wenn ich es nun einmal als meinen Beruf erkannt habe.”
Da aber kam alles wieder zu Leben an Erneste; sie sprang auf.
„Dein Beruf? Eine unanständige Person zu werden, das soll dein Beruf sein? Dazu habe ich dich durch sieben Jahre auf Gottes Wegen erhalten? Du weißt nicht, was du redest: das ist das einzige, was mir noch Hoffnung läßt. Jenny, mein Kind, sie weiß nicht, was sie redet; schweige um Gottes willen über das, was du gehört hast!”
Lola wandte sich um : in der Tür stand die dicke Jenny und sah sie mit heuchlerischem Entsetzen an.
„Du begreifst, Jenny, wenn sie dabei bliebe, das wäre noch schlimmer als das mit Susanne, und davon habe ich doch schon graue Haare. Versprich mir, mein Kind, daß niemand etwas erfahren soll!”
Jenny versprach es artig. Dann entließ Erneste sie; und da sie unbeachtet stand, ging auch Lola. Ernestes Aufregung begriff sie nicht. Lola wollte zur Bühne und möglichenfalls dieselben Stücke spielen, die in der Klasse gelesen wurden. Was liatte das mit Susanne zu tun, die weggeschickt war. weil sie irgend etwas, nicht recht Verständliches, mit dem Gärtner zu tun gehabt haben sollte? Lola saß in Rätseln; aber schon nach der ersten Unterrichtsstunde fing sie neugierige Blicke auf, die sogleich, mit künstlicher Fremdheit, weggelenkt wurden; und auch die Lehrerin, die jetzt darankam, starrte erst einmal Lola recht unverschämt forschend ins Gesicht, und dann richtete sie plötzlich das Wort an eine andere. In der Pause bemerkte Lola, daß manche ihr auswichen und daß einem harmlosen Mädchen, mit dem sie sprach, von Jenny und mehreren anderen so lange bedeutsam gewinkt ward, bis es sich verlegen von Lola losmachte. Lola ging gradeswegs auf Jenny zu: was das eigentlich heiße. Jenny wendete sich gepeinigt hin und her, murmelte, als sei sie um Lolas willen in Sorge, daß nur keine es höre: das wisse Lola wohl selbst am besten; und rasch tauchte sie in einen Kreis Schwatzender.
Ernestes Benehmen war noch viel auffallender. Lola erinnerte sich nicht, daß Erneste jemals länger als eine Nacht mit ihr böse gewesen war. Am Morgen hatte sie sich immer anmerken lassen, daß sie gern versöhnt werden wolle. Dabei ging sie beinahe bittend zu Werke ; infolge jeder von Lolas Ungezogenheiten war Erneste es, die gewissermaßen Vergebung suchte und deren Miene um ein gutes Wort warb. Lola bat schwer um Verzeihung. Wenn sie sich dazu entschloß, tat sie’s aus Mitleid mit Erneste. Das junge Mädchen dachte dann an des Kindes erste Begegnung mit Erneste: als Erneste zuerst streng auf sie eingedrungen und plötzlich, wie sie Lolas Tränen sah, ganz aus der Fassung geraten war. So ging es immer. Erneste schien sich manchmal viel zu dünken, und plötzlich fiel sie in Schüchternheit. Nachdem sie anfangs ihre gnädige Gesinnung als Belohnung hingestellt hatte, bemühte sie sich schließlich um Lolas Zuneigung. Was sie bekam, war eine etwas geringschätzige Freundlichkeit.
Jetzt aber gebärdete sich Erneste, Tag um Tag, traurig
lind behutsam gegen Lola: wie wenn Lola schwer krank sei und man könne mit ihr nur noch wenig und leise reden. Lola sah: auch die wohlwollenden Mitschülerinnen bekamen davon die Empfindung, Lola sei aufgegeben; - und sie selbst geriet über sich ins unklare. Hätte Erneste ihr Szenen gemacht! Lola würde sich versteift, sich behauptet haben. So erschien, was sie gewagt hatte, allmählich ihr selbst als etwas Ungeheuerliches. Keine andere also war dessen fähig! Lola fühlte sich abgesondert, ihre Schritte unheimlich gedämpft, ihr ganzes Dasein fragwürdig. ,Bin ich denn anders als alle?’
Da erinnerte sie sich gewisser Träume, gewisser ahnender, grübelnder Gefühle, für die sie, kam sie damit heraus, nirgends Verständnis gefunden hatte. Befremdet und etwas peinlich berührt, hatte man sie stehengelassen.
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