Pai und Lola folgten dem Fräulein zu einer Laube, wo ein Frühstück bereitstand.
Lola bekam zum Essen ein halbes Gläschen Wein ; dann nahm Pai sie auf sein Knie, küßte sie und sagte: „Nim lauf umher.”
Trotzdem behielt er sie im Arm und sah sie an. Sie entschlüpfte.
„Einen Kuß noch, kleine Tochter”, rief Pai ihr nach.
„Gleich! ”
Und sie sprang hinter einem Schmetterling her. Ihr war lustig zu Sinn, sie dachte: ,Solche großen Klatschrosen! … Ich muß sehen, was dort in der Mauer für ein dunkles, dunkles Loch i s t … Pai ist gut, auch das Fräulein ist g u t … Eine Eidechse, h u s c h … Ob die Mädchen nicht wiederkommen? … Der schöne Tag!4
„Pai!” jauchzte sie.
„Er kann mich nicht hören, so groß ist der Garten. Wo ist denn die Laube geblieben? Ah, um diese Hecken muß ich herum … Nun aber: Pai!” Und sie lief.
Plötzlich hielt sie an: vor der Laube stand das Fräulein allein.
„Pai?”
Lola kam langsam näher. Ihre Augen durchforschten die Laube, überflogen den Garlen und hafteten, verzagend, am Blick des Fräuleins. Was sagte er? Doch nicht das? Er konnte nicht! Lola nahm sich zusammen und fragte:
„Wo ist Pai, Fräulein?”
Das Fräulein sagte etwas, wieder mehrmals dasselbe, aber gar nicht langsam und deutlich wie vorhin: und doch verstand Lola. Sie warf, haltlos jammernd, die Arme in die Höhe.
„Er wollte noch einen Kuß von mir! Wie kann er fort sein, wenn ich ihm doch noch den Kuß geben soll!”
Sie taumelte einmal um sich selbst und schlug, unsicheren Laufs, den We g zum Hause ein. Mitten darauf blieb sie stehen, ließ die Arme fallen, senkte den Kopf ; und die rinnenden Tränen wuschen ihr von den Lippen den Kuß, den sie nicht hatte geben dürfen.
III
Lola war allein.
Sie weinte auf einer Bank, zusammengekrümmt, lange und wild. Das Fräulein stand anfangs dabei und flüsterte hier und da ein Trostwort, das fragend klang, als wisse sie es selbst nicht genau. Dann machte sie einige Schritte, sah sich wartend um, verschwand im Hause. Bald kam sie wieder und rief sehr munter, ob Lola diesen schönen Pfirsich möge. Als aber das Kind zornig den Kopf schüttelte und wilder schluchzte, zog das Fräulein sich so rasch zurück, als flöhe sie.
Die Glocke läutete wieder, und Lola ließ sich fortführen, weil das Fräulein ihr sagte, nun würden die Mädchen kommen und sie weinen sehen. Das Fräulein öffnete die Tür zu ihrem eigenen Zimmer: da sprang kläffend ein kleiner weißer Spitz auf Lola zu, und Lola, die daheim vor Großpais riesigen Hunden keine Furcht gehabt hatte, wich mit einem Aufschrei zurück.
„Ami! ” rief das Fräulein und redete, zu ihm niedergebeugt, ernsthaft auf den Spitz ein. Es half nicht; das Kind und das Tier hatten sich gegenseitig erschreckt; und der Hund mußte hinaus - wo er winselte.
Nun kramte das Fräulein in einem Schrank, zog ein großes buntes Buch hervor und hielt es Lola entgegen. Sie wollte Lola auf einen Schemel setzen; Lola glitt damit aus, griff um sich und warf ein Glas Wasser über die Handarbeit, neben der es. gestanden hatte. Das Fräulein strich ihr die Wange und lächelte. Dann schlug sie das bunte Buch bei der ersten Seite auf - es war ein Affe darauf, ein Ast und noch mehrere Dinge - und wiederholte., auf den Affen zeigend, ein Wort: immer nur das eine. Zuerst beachtete Lola es nicht; dann merkte sie wohl, daß sie es nachsprechen solle: aber sie schwieg; und diese Rache für alles, was mit ihr geschah, tat ihr wohl. Trotzdem richtete das Fräulein seinen Finger jetzt auf den Ast und sagte dazu ein anderes Wort, viele Male. Sie führte Lola auch zu einem weißen Turm, der in einer Ecke des Zimmers ragte, und zu dem Schirm, der davorstand: darauf waren aus bunten Perlen eine Dame und ein Kind und zu beider Füßen ein Tier, das Lola nicht kannte. Es schien ihr sanft, zärtlich, zum Zerbrechen fein; und seine großen Augen glitzerten, als seien sie voll Tränen. Mitleid durchschauerte Lola, mit dem Tier, mit sich selbst - und da stammelte sie das Wort nach, das das Fräulein ihr schon längst vorsagte: „Reh”, und weinte, leise und ohne Trotz.
Wie die Tränen gestillt waren, nahm das Fräulein sie mit zum Essen, an eine lange Tafel, wo viele Mädchen schwatzten und klapperten. Lola aß nichts, aus Traurigkeit; sie saß betäubt da, erschrak, wenn ihr Name genannt ward, und dachte, weh und wund: ,Was wollt ihr alle? Was tue ich hier? Warum hat Pai mich nicht mitgenommen? 4 Nach Tisch ward sie in den Garten gebracht, aber sie schüttelte den Kopf und ging dem Fräulein nach, bis sie wieder im Zimmer und bei dem Reh war: denn das war hier ihr einziger Freund. „Reh, Reh” , flüsterte sie ihm zu. Das Fräulein küßte sie leise auf die Locken und ließ sie mit ihrem Kameraden allein. Als Lola später zu Bett gelegt werden sollte, hatte sie sich schon in Schlaf geweint.
Beim Erwachen in heller Sonne fiel ihr als erstes das Reh ein; dann der Spitz Ami. Sie bedachte vieles Erlebte und auch, ob sie dies Zimmer schon kenne. Neugierig sah sie sich darin um. Noch ein anderes Bett stand da, aber es war schon verlassen.
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