Sie ließ sich aus dem ihren gleiten und trippelte umher: da trat das Fräulein herein, hob Lola auf ihren Arm, zeigte sich auf die Brust und sagte mehrmals:

„Erneste.”

Lola hatte in ihrem rotgeschlafenen Gesichtchen große, aufmerksame braune Augen, die, auf den Mund des Fräuleins gerichtet, ganz leise seitwärts hin und her rückten; ihre blonden Locken hingen wirr geringelt, die leichten Linien ihrer Lippen fügten sich fein ineinander; und am Saume ihres Hemdchens streichelten sich ihre rosigen kleinen Füße. Sie äußerte nichts; aber als sie fand, das Fräulein habe genug „Erneste” gesagt, nickte sie bedächtig, zum Zeichen, daß sie verstanden habe.

  Sie bekam ihren Kakao, grub im Garten, ward, wie die Glocke geläutet hatte, von den Mädchen in einem Ringelreihen geschwenkt und dann wieder von Fräulein Erneste in das Zimmer des Rehes geholt. Der Spitz Ami knurrte nur, und er wedelte dabei. Lola sollte auch heute „Affe” und „Ast” nachsprechen. Sie tat es zerstreut, sah dabei immer das Reh an; sie hatte keinen Sinn für die Dinge, auf die Erneste sie jetzt noch hinzulenken wünschte; und nur zufällig bemerkte sie, daß es sich um die zweite Seite des bunten Ruches handele und daß dort jedes Rild mit einer Marzipanscheibe bedeckt war. Nahm man sie weg, kamen darunter zum Vorschein: ein Raum, ein Räcker, ein Rottich. Sie erlernte diese Worte in großer Eile, um zu erfahren, was auf der dritten Seite wäre.

   Von diesen Erlebnissen, die sie interessiert hatten, wollte sie bei Tisch - war nicht heute alles lustiger bei Tisch? ihrer Nachbarin erzählen, einem Mädchen, das nur wenige Jahre älter sein konnte. Sie erzählte ausführlich, die andere aber lachte nur und stieß eine dritte an. Lola, in Eifer, kam von dem Reh auf die Tiere daheim; sprach von daheim und von Nene und Mai. Plötzlich ward sie inne, daß alle still waren, zu beiden Seiten des Tisches, und sie ansahen: die meisten mit Neugier, einige spöttisch; - und keine, erinnerte sie sich nun, keine einzige hatte sie verstanden! Errötet, ratlos beschämt, sah sie die Reihen entlang, konnte, zitternden Gesichtes, die Tränen noch grade hinunterschluk ken und beugle sich mit einem kleinen einsamen Lächeln über ihren Teller.

   Nun kam eine Stunde, in der alles durchs Haus sprang und sang. Auch Lola sollte singen, sie tat nur so, als begriffe sie nicht. Da faßte aber Erneste ihre beiden Arme, und die Nase kraus vor Freundlichkeit und während alle umherstanden, sagte sie ihr mehrere Worte, deren jedes ungefähr klang wie „singen”: nur nicht ganz. Schließlich aber fand sie’s wirklich: singen; und da sang Lola. Sie sang näselnd: „Ihr Negerknaben meines Vaters…” , schloß dabei halb die Lider und sah nun alles, was sie sang, sah die Heimat… Noch wie sie schwieg, war sie aus dem Schwärm der auf sie Einredenden weit fort.

   Eine Weile darauf fiel ihr ein, daß sie dieses Lied einmal bei der deutschen Großmama gesungen hatte. Seltsam: an den Aufenthalt bei der Großmama hatte sie noch gar nicht wieder gedacht; ihr war, als sei sie von der Großen Insel gradeswegs hierher verschlagen, und alles dazwischen war verworren wie ein Schiffbruch. Nun kam ihr eine Fratze in den Sinn, die der lustige Onkel einmal geschnitten hatte: und von da aus fand sie sich in allem wieder zurecht. Ach! Das war doch Lolas Großmama, denn Pai war ihr Sohn, und sie hatte ihn lieb. Eine aufzuckende Hoffnung: Ob Pai nicht bei ihr war? Daß Lola daran nicht früher gedacht hatte! Pai war nicht abgereist, er war bei seiner Mama! Lola ging zu Fräulein Erneste und sagte „Großmama” : nur das eine, bittende Wort; und Erneste verstand es, sie ließ Lola hinführen.

   Die Großmama breitete die Arme aus, Lola aber lief, ohne ihrer zu achten, um sie herum: „Pai! Pai!” - in sein Zimmer, in das Wohngemach, in den Garten: „Pai! Pai!” Sie kehrte von ihrer vergeblichen Runde wieder.

   „ Wo ist Pai?”

   Die Großmama bedeutete ihr etwas, Lola wußte wohl, was, aber sie glaubte ihr nicht. Einer der Onkel kam, die Magd ward gerufen, und alle wiederholten, dasselbe. Lola schüttelte nicht mehr den Kopf, aber ihre Meinung stand fest. Zuletzt erschien der lustige Onkel und wünschte ihr guten Tag in ihrer Sprache. Immer die zwei Worte, die er sich einst von Pai halte ins Ohr sagen lassen. ,Dummer Papagei’, dachte sie, und sie verlangte fort.

  Sie spähte in jedes Haustor, zerrte ihre Begleiterin in die Läden, die sie mit Pai besucht hatte, und auf einem leeren Platz, wo es. wehte, blieb sie stehen und rief flehentlich „Pai! ” Keines der trägen Fenster öffnete sich; es fror Lola bitterlich; und die Magd zog sie fort.

Aber für das bunte Buch war sie nicht mehr zu haben, nicht mehr für den Garten und kaum noch für das Reh. Sie sah jeden mit Mißtrauen an, der ein Wort zu ihr sprach: eines dieser unverständlichen Worte, deren Geräusch um sie her war. Zu Fräulein Erneste sagte sie: „Das ist nicht wahr”, obwohl sie gar nicht wußte, was das Fräulein gemeint hatte; bei Berührungen brach sie in Geschrei aus; und ihr Drang war immer: auf die Straße, durch die Stadt, und in die Häuser spähen. Sie schrie, bis das Fräulein ängstlich ward und sie hinausließ. Das dauerte mehrere Tage.

   Dann wich Lolas Glaube. Sie hatte gewiß in jedem Win kel nachgesehen und überall ihr „Pai!” gerufen. So wollte Pai sie wohl nicht hören, oder er war wirklich fort.