Es war nicht schwer, die Mädchen zu überzeugen, daß sie der Ratte eine große, scheußliche Puppe ins Bett legen müßten. Man brauchte eine Maske, eine Haube, eine Jacke, eine Brille. Das Geld? Man wußte doch, wo die Ratte ihres aufbewahrte. Es war nur gerecht, daß sie selbst sich die Puppe kaufte. So geschah es. Die Ratte fiel zuerst in Ohnmacht, und wie der Verlust des Geldes herauskam, erlitt sie einen Weinkrampf. Lola sah ihn mit an: sie sah den Schmerz des häßlichen und geizigen Geschöpfes, ward hineingezogen und lebte ihn mit, außer sich vor Reue. Sie sah eine dicke Ratte sich ängstigen, die sie vergiftet hatte, und hätte gern, wenn es noch möglich geweseil wäre, das Gift selbst gegessen. Sie bat um Verzeihung, nahm sogar, mit leidenschaftlicher Selbstüberwindung, die Hand der Ratte. Denselben Ekel empfand sie auch jetzt noch; aber sie sah dieses Wesen leiden; sah unendlich mehr davon, als die andern sahen; und begriff nicht mehr, wie sie solch Leiden hatte zufügen mögen! Viel lieber statt anderer leiden! In mancher Nacht kam ihr die Frage: ,Wcnn ich mich lebendig begraben lassen sollte, oder Erneste sollte sterben, oder Mai : was würde ich wählen?’ Sie warf sich seufzend und heiß umher: nun hieß es sieh entscheiden, das Furchtbarste auf sich nehmen. Und plötzlich war sie hindurch, sah Licht, war sanft und süß durchronnen und hatte sich dargebracht: ,Oh, lieber, viel lieber will ich lebendig begraben werden!’
Sie war erschüttert; ein Drang nach Güte, eine schmerzliche Wallung vo n Liebenwollen ho b ihr Herz auf; - und da kam rechtzeitig der neue Geschichlslehrer, Herr Dietrich. Er war schüchtern und ironisch, und er sprach immer wie zu erwachsenen Damen. Alle interessierten sich für ihn, einige erkundeten seine Lebensumstände. Er wohnte mit seiner Mutter und seinen jungen Geschwistern zusammen und unterhielt sie. Wie Lola von seinem Leben träumte! Liebreich mußte es dahinfließen, voll sanfter, gütiger, edler Gedanken. Mit zwei andern, die für ihn schwärmten, wagte sie es unter einem Vorwand, ihn aufzusuchen. Kein Teppich lag auf den weißen Dielen seines Zimmers. Herr Dietrich stand von seinem Schreibtisch auf, der dabei ins Wanken kam, und deckte verlegen ein Kissen auf einen Riß im Ledersofa. Das ganze Haus roch nach saurer Milch. Tagelang erbitterte Lola sich gegen Ernesle, die ihn nicht besser bezahlte. Alle hätten hingehen sollen und es ihr vorhalten. Lola sonderte sich ab, sooft sie konnte, lernte den Leitfaden der Geschichte auswendig, und wenn sie ihn sich wiederholte, war es ihr, als sagte sie ihm etwas Liebes. Als sie an einem Märztag, es lag noch Schnee, allein im Garten gewesen war, kam sie erregt zu Erneste gelaufen.
„Erneste, ich weiß jetzt, wie der Frühling aussieht!”
„Wieso?”
„Wie Herr Dietrich sieht er aus!”
Lola leuchtete. Die Offenbarung, die sie soeben empfangen hatte, war einfach und liefwahr.
Erneste dachte: ,Mit zwölf Jahren s c h o n ? … ‘ Sie faßte sich und äußerte:
„Aber Kind, für ein Mädchen, das bald dreizehn wird, ist das doch zu kindisch. Herr Dietrich ist natürlich ein Mensch wie wir alle.”
Lola stutzte; war er das? Warum mußte sie dann so viel an ihn denken? Immer hatte sie jenen leichten Geruch von saurer Milch in der Nase: so viel dachte sie an Herrn Dietrich. ,Ich will ihn mir ganz genau ansehen.’ Grade heute war Herrn Dietrich sein gelber Strumpf über seinen schwarzen Schuh gerutscht. Lola starrte finster und nachdenklich darauf hin. Ähnliches konnte man auch bei andern Lehrern sehen: aber Herr Dietrich, der so edel war! an den Lola so viel denken mußte! Nun bemerkte sie auch, wie Herr Dietrich sich mit Jenny abgab; wie die dicke, freche Jenny, das Kinn auf der geziert ausgespreizten Hand, ihn anschmachtete; wie er errötend wegsah und, nachdem er ein wenig an seinem Kneifer gerückt hatte, ihr zulächelte. Da ward es Lola kalt und zornig zu Sinn; es trieb sie, Herrn Dietrich zu zeigen, daß er für sie durchaus kein Ideal sei. Er stand grade vor ihr; seine rötliche, knochige Hand lag auf ihrem Tisch; und in seiner Manschette konnte sie Haare sehen.
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