Und doch wäre es umgekehrt besser gewesen für beide, wenn er es auch nicht eingestehen würde und sie es nicht fühlte, wenigstens in diesem Augenblicke nicht. Vielleicht auch morgen und übermorgen noch nicht. Wieviel Zeit mag nötig sein, wieviel Schmerzen wird sie zu Hilfe nehmen müssen, von einem ursprünglich so schönen Menschenbilde abzuwaschen, womit die Gewohnheit von Jahren es beschmutzt hat!

Die Tür flog auf, das hochgerötete Antlitz des Dienstmädchens erschien in ihr. »Er kommt!« Wer in der Straße zufällig am Fenster steht, schaut mit Wohlgefallen auf die frische, schlanke, männliche Gestalt herab, die daher kommt, den Tornister auf dem Rücken, den Stock unter dem Arm. Denn er hat keine Hand frei. An der rechten führt er ein Mädchen, zwei kleinere Knaben halten sich zugleich an seiner linken fest: ein Umstand, der das Fortkommen nicht erleichtert. Die Nachbaren, die wußten, wer erwartet wurde, füllen Fenster und Türen. Er hat nun nicht bloß den unermüdlich auf ihn einredenden Kindern, er hat auch andern zu antworten. Den Alten muß er auf Grüße und Scherzreden erwidern, Schulkameraden zuwinken, vor errötenden Mädchengesichtern sich verneigen. Den Hut kann er nicht abziehen; die Kinder geben seine Hände nicht frei. Aber die Grüßenden verlangen es auch nicht; sie sehen, wie unmöglich es ihm ist. Und wo er vorübergegangen, da sagt ein Winken hinter ihm her: »Er ist noch der alte, hübsche, bescheidene Junge«, und ein gehobener Finger setzt hinzu: »Aber er ist kein Junge mehr; er ist ein Mann geworden, und was für einer!« Ist das Fenster geschlossen, wird alles zu seinem Lobe laut, nur die Mädchen nicht, die reif genug waren, sein Neigen mit unwillkürlichem Erröten zu erwidern; die sind stiller als sonst, und die Sonne, die heut so viel heller scheint als an andern Tagen, bringt die seltsamsten Wirkungen auf sie hervor. Zunächst einen eigenen Drang der Füße, in der Richtung nach den Fenstern sich zu bewegen; dann ein ebenso wunderbar plötzliches Wiedererwachen längst entschlafener Freundschaften, deren Gegenstände in der Nähe des Nettenmairschen Hauses wohnen, und die man besuchen muß; endlich merkwürdig oft wiederkehrenden Andrang des Blutes nach dem Kopfe, den man für ein Erröten angesehen hätte, war nur irgendein Grund dazu vorhanden.

Ob die Veränderung, die mit unserm Wanderer in der Fremde vorgegangen, seinen Bruder ebenso erfreuen wird als die Nachbaren?

Er ist an der Tür des Vaterhauses angekommen. Vergeblich hat er an den Fenstern nach einem bekannten Antlitz gesucht. Jetzt kommt ein untersetzter Herr im schwarzen Frack herausgestürzt. So hastig kommt er gestürzt, so wild umschlingt er ihn, so fest drückt er ihn an seine weiße Weste, so nahe drängt er Wange gegen Wange, so lange läßt er sie da ruhen, daß man die Wahl hat, zu glauben, er liebt den Bruder außerordentlich, oder – er will sich nicht gern in die Augen sehen lassen von ihm. Aber er muß ihn doch endlich einmal aus den Armen lassen; er nimmt ihn unter den rechten und zieht ihn in die Türe.

»Schön, daß du kommst! herrlich, daß du kommst! Es war eigentlich nicht nötig – ein Einfall von dem im blauen Rock, und der hat nichts mehr zu befehlen im Geschäft. Aber es ist wirklich schön von dir; es tut mir nur leid, daß du deiner Braut unnütz die Augen rot machst.« – »Deiner Braut!« das sprach er so deutlich und mit so erhöhter Stimme, daß man es in der Wohnstube vernehmen und verstehen konnte.

Der Ankömmling suchte mit feuchten Augen in des Bruders Angesicht, wie um Zug für Zug durchzugehen, ob auch alles noch darin sei, was ihm so lieb und teuer gewesen. Der Bruder tat nichts dazu, ihm das Geschäft zu erleichtern. Was ihn auch hindern mochte, er sah nur, was sich zwischen Apollonius' Kinn und Fußspitzen befand. Er hatte vielleicht gedacht, sich mit der alten Wendung auf den Fersen an die Spitze des Zuges zu stellen. Aber nach dem Wenigen, das er gesehen, paßte »der Träumer« nicht mehr, und die Wendung unterblieb.

»Der Vater hat es haben wollen«, sagte der Ankömmling unbefangen. »Und was du da von einer Braut sagst –«

Der Bruder unterbrach ihn; er lachte laut in seiner alten Weise, so daß man, sprach Apollonius auch weiter, ihn nicht mehr verstanden hätte. »Schon gut! Schon gut! Noch einmal, es ist prächtig, daß du uns besuchst, und vierzehn Tage wenigstens wirst du festgehalten, magst du wollen oder nicht. Kehr' dich nicht an die«, setzte er leiser hinzu und zeigte mit der Rechten durch die Tür, die er eben mit der Linken öffnete.

Die junge Frau stand mit dem Rücken gegen die Tür an einem Schrank, in welchem sie kramte. Verlegen und nicht eben freundlich wandte sie sich, und nur nach dem Manne. Noch sah der Schwager nichts als einen Teil ihrer rechten Wange und eine brennende Röte darauf. Was man sonst an ihrem Benehmen auszusetzen fände, es zeigte sich darin eine unverkennbare Ehrlichkeit, ein Unvermögen, sich anders zu geben, als sie war. Sie stand da, als mache sie sich gefaßt, eine Beleidigung hören zu müssen. Der Ankömmling ging auf sie zu und ergriff ihre Hand, die sie ihm erst schien entziehen zu wollen und dann regungslos in der seinen liegen ließ.