Er hält beide bereit, um das rechte gleich bei der Hand zu haben. Er weiß noch nicht, welches er brauchen wird.

Vorn durch den Spalt der wenig geöffneten Haustüre lauscht das Dienstmädchen. Aber keine ihrer Bekannten geht vorbei. Bald wird sie auf einen Vorwand sinnen, die erste beste vorüberwandelnde Gestalt anzuhalten, nur um wie gelegentlich anzubringen, das Haus erwarte heute seinen jüngern Sohn aus der Fremde zurück. Einstweilen sagt sie es dem alten Hunde, der, bemüht, die verschiedenen Gruppen durch sein Ab- und Zugehen in Verbindung zu erhalten, eben bei ihr angekommen ist. Und sogleich wendet er sich nach dem Hofe zurück, wie um weiter zu sagen, was er vernommen. Der alte Hund ist von der Unruhe der Menschen angesteckt. Ist doch jetzt die Stunde, die er an andern Tagen vor seiner Hütte schlafend verbringt.

Die alte Gewohnheit scheint ihn zu mahnen, als er an seiner Hütte vorbeilaufen will. Er legt sich daneben, aber er schließt die Augen nicht; er scheint in tiefe Gedanken versunken. Denkt er sich die weite Erde mit ihren Bergen und Tälern und Flüssen, mit ihren Städten und Dörfern? Und von Ort zu Orte Straßen und auf jeder Straße Wanderer, fortziehende und heimkehrende?

Wer ein scharfes Auge hätte, die Herzensfäden alle zu sehen, die sich spinnen die Straßen entlang über Hügel und Tal, dunkle und helle, je nachdem Hoffnung oder Entsagung an der Spule saß, ein traumhaftes Gewebe! Manche reißen, helle dunkeln, dunkle werden hell; manche bleiben ausgespannt, solang die Herzen leben, aus denen sie gesponnen sind; manche ziehen mit unentrinnbarer Gewalt zurück. Dann eilt des Wanderers Seele vor ihm her und pocht schon an des Vaterhauses Tür und liegt an warmen Herzen, an Wangen, von Freudentränen feucht, in Armen, die ihn drücken und umfangen und ihn nicht lassen wollen, während sein Fuß noch weit davon auf fremdem Boden schreitet. Und steht er auf der Flur des Vaterhauses, wie anders dann, wie anders oft ist sein Empfang, als er geträumt! Wie anders sind die Menschen geworden! In einer Minute sagt er zweimal: »Sie sind's«, und zweimal: »Sie sind's nicht«. Dann sucht er die altbekannten lieben Stellen, die Häuser, den Fluß, die Berge, die das Heimatstal umgürten; die müssen doch die alten geblieben sein! Aber auch sie sind anders geworden. Oft sind es die Dinge, die Menschen, oft nur das Auge, das sie wiedersieht. Die Zeit malt anders als die Erinnerung. Die Erinnerung glättet die alten Falten, die Zeit malt neue dazu. Und die, mit denen er in der Erinnerung immer zusammen war, in der Wirklichkeit muß er sich erst wieder an sie gewöhnen.

Ob Apollonius das dachte, als er immer etwas vergebens erwartete und nicht wußte, daß es der Bruder war, der ihm entgegenkommen sollte? Ob der Bruder fühlte, Apollonius müsse nach ihm aussehen, als er so schnell von seinem Stuhle aufstand? Er hatte schon die Türklinke in der Hand. Er ließ sie fahren. Fiel ihm ein, er könne ihn verfehlen, und blieb, weil er Frau und Bruder die Peinlichkeit des Augenblickes ersparen wollte, in dem sie einander allein gegenüberstehen müßten? Sie mit dem Widerwillen und er mit dem Bewußtsein jenes Widerwillens! Jetzt stieg die alte Gestalt des Geschiedenen vor dem Bruder auf, und es war, als befreite sie ihn von schweren Sorgen. Es war die Wendung, mit der er sich sonst von dem Gegenwärtigen abwandte und dabei aussah, als sagte er zu sich: »Der Träumer!« und eine rasche Bewegung machte, wie um recht zu fühlen, welch ein anderer er sei, wie besser er sich auf das Leben verstehe und auf die Art, »die lange Haare hat und Schürzen trägt«. Er musterte mit einem beruhigten Blick in dem Spiegel seine gedrungene Gestalt, sein volles rotes Gesicht, das tiefer in den Schultern stak, als er meinte, wenigstens nicht tiefer, als er für schön hielt; er steckte die Hände in die Beinkleidertaschen und klapperte mit dem Gelde darin. Er besann sich, schon dem Gesellen am Schuppen gesagt zu haben: »Es bleibt beim alten in der Arbeit. Du nimmst von niemand Befehle als von mir. Ich bin Herr hier.« Und der hatte so eigen zweideutig gelacht, als sagte er ein lautes Ja zu dem Redenden und zu sich: »Ich laß dich so reden, weil ich es bin.« Fritz Nettenmair dachte: »Lange wird er nicht bleiben; dafür will ich schon tun.« Und über der Bewegung, die wiederum sagte: »Ich bin ein Kerl, der das Leben versteht«, fiel ihm der Ball ein, an dem er das heute abend noch viel genugtuender empfinden wird, weil er es in allen Augen lesen kann, was er ist und kein anderer so außer ihm.

Seine junge Frau scheint Ähnliches zu denken. Auch sie sieht in den Spiegel; ihre Blicke begegnen sich darin. Die Ehe soll die Gatten sich ähnlich machen. Hier traf die Bemerkung. Das Zusammenleben hatte hier zwei Gesichter sich ähnlich gemacht, die unter andern Umständen sich vielleicht ebenso unähnlich sehen würden. Und es hatte eigentlich nicht beide einander ähnlich gemacht, sondern nur eins davon dem andern. Die übereinstimmenden Züge, das konnte ein scharfes Auge sehen, waren nur ihm eigen; er hatte nur gegeben, aber nicht empfangen.