Es war kein kleiner Zuwachs zu der alten Marter, und jene wie diese kam ihm von dem Bruder, nur von ihm!
Wohligs Anne war öfter dagewesen seit Apollonius' Ankunft, und die junge Frau hatte in dem Glauben, der in naiven Gemütern die natürliche Folge der eigenen Wahrhaftigkeit ist, an ihren gesuchtesten Vorwänden nicht gemäkelt. Heute war das anders. Sie war plötzlich so scharfsichtig geworden, daß der erkannte Vorwand ihr in der Größe eines unverzeihlichen Verbrechens erschien. Das Mädchen war ihr zuwider, das so falsch sein konnte, und sie selbst zu ehrlich, das zu verbergen. Anne suchte den Grund dieses Benehmens in dem Widerwillen der jungen Frau gegen den Schwager. Es war ja bekannt, die junge Frau gönnte dem armen Menschen die Liebe des Bruders nicht. Sie hatte selbst geäußert, sie würde ihm einen Korb geben, wenn er es wagen würde, sie zum Tanze aufzufordern. Und dem guten Apollonius war es anzusehen, sie ließ ihn des Aufenthalts in seinem Vaterhause nicht froh werden. Die Gereiztheit machte auch die Anne ehrlich; sie sprach von ihren Gedanken aus, was ausgesprochen werden konnte, ohne den zarten Punkt ihrer Neigung bloßzugeben. Christiane mußte den Vorwurf nun auch aus fremdem Munde vernehmen, den schon das eigene Kind ihr gemacht.
Das Mädchen ging. Apollonius kam, vom Bruder zurück, wieder vorüber. Er konnte das Mädchen noch gehen sehen. Aber nichts zeigte sich in seinem Gesichte, was ihrer nur halb verstandenen Furcht recht gegeben hätte. Und so sah auch Fritz Nettenmair, der dem Bruder aus dem Versteck der Hintertür nachblickte, auf ihrem Antlitz nicht so viel, als er gefürchtet zu sehen.
Das Kind sagt: du hast ihm was getan; die Anne sagt: du hassest ihn, du läßt ihn nicht froh werden. Und sein traurig Nachblicken – bald ertappt sie ihn selbst unbemerkt dabei – sagt dasselbe. Wie ein Blitz und mit freudigem Lichte zuckte es dazwischen, er sah der Anne nicht traurig nach, und auch nicht freudig, nein! gleichgültig, wie jedem andern sonst. Ihr wird gesagt: du hassest ihn; du hast ihn beleidigt und du willst ihn kränken, und sie hat geglaubt, er hasse sie, er will sie kränken. Und hat er sie nicht gekränkt? Sie blickt in lang vergangene Zeit zurück, wo er sie beleidigte. Sie hat ihm schon lang nicht mehr darum gezürnt, sie hat nur neue Beleidigung gefürchtet. Kann sie jetzt noch darum zürnen, wo er ein so anderer ist? wo sie selbst weiß, er beleidigt sie nicht? wo die Leute sagen und sein trauriger Blick: sie beleidige ihn? Und wie sie zurücksinnt, eifrig, so eifrig, daß die Musik wieder um sie klingt und sie wieder unter den Gespielinnen sitzt, im weißen Kleid mit den Rosaschleifen, im Schießhaus auf der Bank den Fenstern entlang, und wieder aufsteht, von dem dunklen Drang getrieben, und durch die Tanzenden hindurch träumend nach der Türe geht – da draußen; ist das nicht dasselbe Gesicht, das ihr jetzt nachsieht, wenn sie geht, so ehrlich, so mild in seiner Wehmut? Ist es nicht dasselbe eigene Mitleid, das jetzt auf Tritt und Schritt mit ihr geht und sie nicht läßt, wie damals? Dann wich sie ihm aus und sah ihn nicht mehr an, denn er war falsch. Falsch! Ist er es wieder? Ist er es noch?
Eine Nachtigall schlug in dem alten Birnbaume über ihr, so wunderbar und wie gewalttätig innig und tief. Vom Georgenturm bliesen viel Posaunen den Abendchoral. Über ihnen und wie von ihren schwellenden Tönen getragen, fuhr Apollonius auf seinem leichten Schiff. Das Abendrot vergoldete die Fäden, in denen es hing. Wohin sie sah, glänzten die treuen trauernden Augen, die ihm gehörten, mit denen er ihr nachsah, wenn sie ging. Das kleine Mädchen sah mit ihnen auf zu ihr und erzählte vom Onkel, wie lieb und gut er sei. Oder erzählte sie von damals? Es war keine Zeit mehr, sonst und jetzt war eins. Die letzte Ähnlichkeit mit Fritz Nettenmair war aus ihrem Antlitz verschwunden. Ihre Seele schauerte hoch oben zwischen Himmel und Erde. Was sie ansah, war ein Rätsel mit süßer Deutung, aber sie kannte sie nicht.
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