Apollonius nahm sein gedankenvolles Schweigen für eine Antwort.
»Weißt du's nicht«, fuhr er fort, »so laß uns zusammen zu ihr gehen und sie fragen. Ich muß wissen, was ich tun soll. Das Leben seither darf nicht so fortgehen. Was würde der Vater sagen, wenn er's wüßte! Mir ist's Tag und Nacht ein Vorwurf, daß er es nicht weiß. Es ist für uns alle besser, Fritz. Komm, laß es uns nicht verschieben!«
Fritz Nettenmair hörte nur die Zumutung des Bruders. Er sollte ihn zu ihr führen! Er sollte ihn jetzt zu ihr führen! Wußte Apollonius schon von ihrem Zustand und wollte ihn benutzen? Es bedurfte der Frage nicht; wenn sie sich jetzt nur sahen, mußten sie sich verstehen. Dann war es da, wovon er wußte, es mußte kommen, und doch Verzweiflungsanstrengungen machte, ihm das Kommen zu wehren. Sie durften jetzt nicht einander gegenüberstehen; sie durften sich jetzt nicht sehen, bis er eine neue Scheidemauer zwischen sie gebaut. Woraus? Darauf zu sinnen war jetzt nicht Muße. Einen Vorwand mußte er haben, den Gang zu ihr zu verhindern, Zeit, den Vorwand zu finden. Und nur um die Zeit zu gewinnen, lachte er: »Freilich! jovial fragen. Wer fragt, wird berichtet. Aber wie fällt dir das eben jetzt ein? Eben jetzt?« Ein Gedanke, der ihn überwältigend traf wie ein Blitz, wurde ohne seine Wahl zu dieser Frage.
Apollonius war schon an der Tür. Er wandte sich zurück zum Bruder und antwortete mit einer Freude, die diesem eine teuflische schien, weil er ihm nicht in das ehrliche Gesicht sah. Dafür würde Apollonius in des Bruders Antlitz ein Etwas von Teufelsangst ertappt haben, hätte dieser es ihm zugewandt. Und vielleicht dennoch nicht. Er würde den Bruder vielleicht für krank gehalten haben, so ohne die mindeste Ahnung von dem, was den Bruder dabei ängsten könne, als er war. Ja, was ihn freute, mußte ja auch den Bruder freuen.
»Früher«, entgegnete Apollonius, »mußt' ich fürchten, sie noch mehr zu erzürnen. Und das würde dir noch weniger lieb gewesen sein als mir.«
Der Bruder lachte und bejahte in seiner jovialen Weise mit Kopf und Schultern, um nur etwas zu tun. Und sein: »Und jetzt?« schien nun vom Lachen halb erstickt, nicht von etwas anderem.
»Deine Frau ist anders seit einiger Zeit«, fuhr Apollonius vertraulich fort.
»Sie ist« – antwortete Fritz Nettenmairs Zusammenzucken wider seinen Willen und wollte sagen, wofür er sie hielt. Es war ein arges Wort. Aber würde er selbst, der sie dazu gemacht, es ihm sagen? Nein, es ist noch nicht da, was er fürchtet. Und wenn es kommen muß, er kann es noch verzögern. Er hält mit Gewalt seiner Erregung den Mund zu. Er fragte gern: »Und woher weißt du, daß sie – anders ist?« wüßte er nicht, seine Stimme wird zittern und ihn verraten. Er muß ja wissen, wer es dem Bruder verraten hat. Hat er sie schon gesprochen? Hat er es ihr von fern aus den Augen gelesen? Oder ist ein Drittes im Spiel? ein Feind, den er schon haßt, ehe er weiß, ob er vorhanden ist?
Apollonius scheint ein Etwas von des Bruders unglückseliger Lesegabe angeflogen. Der Bruder fragt nicht; sein Gesicht ist abgewandt; er kramt tief im Schranke und sucht wie ein Verzweifelnder und kann nicht finden; und doch antwortet ihm Apollonius.
»Dein Ännchen hat mir's gesagt«, entgegnet er und lacht, indem er an das Kind denkt. »›Onkel‹, sagte das närrische Kind, ›die Mutter ist nicht mehr so bös auf dich; geh nur zu ihr und sprich: ich will's nicht mehr tun; dann ist sie gut und gibt dir Zucker.‹ So hat sie mich auf den Gedanken gebracht.
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