Vor dem Hauptausgang entstand eine stauende Bewegung unter den Menschenmassen, ein heftiges Drängen nach einem Punkt. Ein Ruf drang von draußen herein, oft wiederholt und sich steigernd im Ausdruck: »Der Inder! Der Inder!« Die blinde und treibende Menge riß einen der mächtigen Wandteppiche des Zeltes ab und wälzte sich gegen die Tische. Die Gäste erhoben sich. Viele, durch die Sonnenröte geblendet, hielten die Hand vor die Augen. Der Himmel erschien jetzt wie geöffnet, er war so mit Purpur übergossen, daß der herabflutende Glanz die Bäume, die Wasser, die Gräser und die Steine färbte; um die Tiefe des Horizonts aber lief ein gläserner, smaragdgrüner Saum, auf den sich die ganze Himmelswölbung wie eine von Blut rauchende Glocke stützte.
Hephästion blickte hinaus. Dann griff er langsam nach dem Diadem und gab es Alexander lächelnd zurück. Es war ein herrliches Lächeln voll Bittersüße und vermochte mehr als alle Worte der Welt, mehr als Beteuerungen und Beweise, denn es enthielt mehr, es enthielt die Zusage des Vergessens dieser Stunde. Alexander schämte sich, er errötete und schämte sich.
Die meisten begriffen nicht, was vorgegangen war. Sie hatten gehofft, nun sei es vorbei mit Hephästion; die unerwartete Wendung erweckte Erstaunen und Unwillen. Doch ihre Auf-merksamkeit wurde durch den Tumult abgelenkt, der draußen entstanden war.
Eine Anzahl Soldaten, Makedonier, Kreter und Epiroten, hatte ein Gerüst erbaut und es als eine Art riesigen Wagens von sechzehn Pferden durch das Lager ziehen lassen, während sie oben ruhten, vom grünen Gezweig überschattet, ununterbrochen schmausten und aus zusammengebundenen Schläuchen tranken.
Ihre nackten Weiber saßen dabei, jubelten zum Saitenspiel und tanzten um einen gewaltig großen Phallos. Da war ihnen ein langer Zug von Kindern entgegengekommen, an der Spitze der Inder Kondanyo. Er hatte sich der verwahrlosten, hungernden, obdachlosen Geschöpfe angenommen, deren Eltern bei dem Wü-
stenzug das Leben verloren hatten, und wollte sie zu Alexander führen, damit er sich ihrer erinnere in der Stunde des Glücks.
Aber der Wagen der Söldner versperrte den Weg zum großen Zelt; auf der einen Seite war der Fluß, auf der andern lagen in hölzerner Umzäunung die Opfertiere. Die Soldaten schleuder-ten Verwünschungen und Flüche herab, die wilden Pferde vor dem Schaugerüst drohten die Kinder niederzustoßen, da trat Kondanyo vor den Wagen. Er trug ein härenes Gewand, war bloßfü-
ßig, und sein weißes Haar hing unbedeckt bis auf die Schulter.
Die Söldner fingen an zu spotten. Aber das Gesicht des Alten zeigte einen so befremdlichen Ausdruck von Güte, eine solche todesüberlegene Kraft, daß ihre Witze zu Boden fielen wie vom Blitz versengte Vögel.
Alexander wandte sich dem Ausgang des Zeltes zu. Hephästion trat an seine Seite. Jetzt beschloß er zu reden, und er hoffte von der günstigen Stimmung, daß Alexander das Geschehene leichtnehmen würde, denn er schien ganz von Tat entlastet, vom Feuer des Willens gelöst, schien im tiefsten Genuß seiner selbst völlig dem Augenblick ergeben. Bezaubernd war die Milde seiner Miene und das feucht aufblickende, schmachtende Auge.
Hephästion begann also seine Erzählung, aber er kam nicht bis zum dritten Wort. Alexander nahm den Ring vom Finger und drückte das Siegel zum Gebot des Schweigens auf Hephästions Mund, und beide empfanden es, wie sich am Mißverständnis das Leben entzündet.
Indessen waren sie hinausgetreten. Die Menge machte Platz.
Kondanyo gewahrte Alexander und löste sich aus der Schar der ihn ängstlich umdrängenden Kinder.
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