Sie geht nämlich allein von dem Subjekt derselben aus, beruht auf seinem Tun und Lassen, nicht aber auf dem, was andere tun und was ihm widerfährt: sie ist also ein Ding, das in uns selbst ruht. Dies ist, wie wir bald sehen werden, ein Unterscheidungsmerkmal der wahren Ehre von der ritterlichen oder Afterehre172. Bloß durch Verleumdung ist ein Angriff von außen auf die Ehre möglich: das einzige Gegenmittel ist Widerlegung derselben mit ihr angemessener Öffentlichkeit und Entlarvung des Verleumders.

Die Achtung vor dem Alten scheint darauf zu beruhen, dass die Ehre junger Leute zwar als Voraussetzung angenommen, aber noch nicht erprobt ist, daher eigentlich auf Kredit besteht. Bei den älteren aber hat es sich im Laufe des Lebens ausweisen müssen, ob sie, durch ihren Wandel, ihre Ehre behaupten konnten. Denn weder die Jahre an sich, als welche auch Tiere, und einige in viel höherer Zahl, erreichen, auch noch die Erfahrung als bloße, nähere Kenntnis vom Laufe der Welt, sind hinreichender Grund für die Achtung der jüngeren gegen die älteren, welche doch überall gefordert wird: die bloße Schwäche des höheren Alters würde mehr auf Schonung, als auf Achtung Anspruch geben. Merkwürdig aber ist es, dass dem Menschen ein gewisser Respekt vor weißen Haaren angeboren und daher wirklich instinktiv173 ist. Runzeln, ein ungleich sichereres Kennzeichen des Alters, erregen diesen Respekt keineswegs: nie wird von ehrwürdigen Runzeln, aber stets vom ehrwürdigen weißen Haar geredet.

Der Wert der Ehre ist nur ein mittelbarer. Denn, wie bereits am Eingang dieses Kapitels auseinandergesetzt ist, die Meinung anderer von uns kann nur insofern Wert für uns haben, als sie ihr Handeln gegen uns bestimmt, oder gelegentlich bestimmen kann. Dies ist jedoch der Fall, so lange wir mit oder unter Menschen leben. Denn da wir, im zivilisierten Zustande, Sicherheit und Besitz nur der Gesellschaft verdanken, auch der anderen, bei allen Unternehmungen, bedürfen und sie Zutrauen zu uns haben müssen, um sich mit uns einzulassen; so ist ihre Meinung von uns von hohem, wiewohl immer nur mittelbarem Werte für uns: einen unmittelbaren kann ich ihr nicht anerkennen.

Soviel von der bürgerlichen Ehre. Die Amtsehre ist die allgemeine Meinung anderer, dass ein Mann, der ein Amt versieht, alle dazu erforderlichen Eigenschaften wirklich habe und auch in allen Fällen seine amtlichen Obliegenheiten174 pünktlich erfülle. Je wichtiger und größer der Wirkungskreis eines Mannes im Staate ist, also je höher und einflussreicher der Posten, auf dem er steht, desto größer muss die Meinung von den intellektuellen Fähigkeiten und moralischen Eigenschaften sein, die ihn dazu tauglich machen; mithin hat er einen umso höheren Grad von Ehre, deren Ausdruck seine Titel, Orden usf. sind, wie auch das sich unterordnende Betragen anderer gegen ihn. Nach demselben Maßstabe bestimmt nun durchgängig der Stand den besonderen Grad der Ehre, wiewohl dieser modifiziert wird durch die Fähigkeit der Menge über die Wichtigkeit des Standes zu urteilen. Immer aber erkennt man dem der besondere Obliegenheiten hat und erfüllt, mehr Ehre zu, als dem gemeinen Bürger, dessen Ehre hauptsächlich auf negativen Eigenschaften beruht.

– Ich habe hier die Amtsehre in einem weitern Sinne genommen, als gewöhnlich, wo sie den dem Amte selbst gebührenden Respekt der Bürger bedeutet. Die Sexualehre scheint nur einer näheren Betrachtung und Zurückführung ihrer Grundsätze auf die Wurzel derselben zu bedürfen, welche zugleich bestätigen wird, dass alle Ehre zuletzt auf Nützlichkeitsrücksichten beruht. Die Sexualehre zerfällt, ihrer Natur nach, in Weiber- und Männer-Ehre, und ist von beiden Seiten ein wohlverstandener esprit de corps175. Die erstere ist bei weitem die Wichtigste von beiden: weil im weiblichen Leben das Sexualverhältnis die Hauptsache ist. – Die weibliche Ehre also ist, die allgemeine Meinung von einem Mädchen, dass sie sich gar keinem Manne, und von einer Frau, dass sie sich nur dem ihr angetrauten hingegeben habe. Die Wichtigkeit dieser Meinung beruht auf folgendem. Das weibliche Geschlecht verlangt vom weiblichen zunächst und unmittelbar nur eines. Daher musste die Einrichtung getroffen werden, dass das männliche Geschlecht vom weiblichen jenes eine nur erlangen kann gegen Übernahme der Sorge für alles und zudem für die aus der Verbindung entspringenden Kinder: auf dieser Einrichtung beruht die Wohlfahrt des ganzen weiblichen Geschlechts. Um sie durchzusehen, muss notwendig das weibliche Geschlecht zusammenhalten und esprit de corps beweisen. Dann aber steht es als ein ganzes und in geschlossener Reihe dem gesamten männlichen Geschlechte, welches durch das Übergewicht seiner Körper- und Geisteskräfte von Natur im Besitze aller irdischen Güter ist als dem gemeinschaftlichen Feinde gegenüber, der besiegt und erobert werden muss, um, mittelst seines Besitzes, in den Besitz der irdischen Güter zu gelangen. Zu diesem Ende nun ist die Ehrenmaxime176 des ganzen weiblichen Geschlechts, dass dem männlichen jeder uneheliche Beischlaf durchaus versagt bleibe; damit jeder einzelne zur Ehe, als welche eine Art von Kapitulation ist, gezwungen und dadurch das ganze weibliche Geschlecht versorgt werde. Dieser Zweck kann aber nur vermittelst strenger Beobachtung der obigen Maxime vollkommen erreicht werden: daher wacht das ganze weibliche Geschlecht, mit wahrem esprit de corps, über die Aufrechterhaltung derselben unter allen seinen Mitgliedern. Demgemäß wird jedes Mädchen, welches durch unehelichen Beischlaf einen Verrat gegen das ganze weibliche Geschlecht begangen hat, weil dessen Wohlfahrt durch das Allgemeinwerden dieser Handlungsweise untergraben werden würde, von demselben ausgestoßen und mit Schande belegt: es hat seine Ehre verloren. Kein Weib darf mehr mit ihm umgehen: es wird gleich einer Verpesteten gemieden. Das gleiche Schicksal trifft die Ehebrecherin; weil diese dem Manne die von ihm eingegangene Kapitulation nicht gehalten hat, durch solches Beispiel aber die Männer vom Eingehen derselben abgeschreckt werden; während auf ihr das Heil des ganzen weiblichen Geschlechts beruht. Aber noch überdies verliert die Ehebrecherin wegen der großen Wortbrüchigkeit und des Betruges ihrer Tat, mit der Sexualehre zugleich die bürgerliche.