Umgekehrt aber, wenn wir auch durch unsere Eigenschaften und Handlungen alle andern zwingen, uns sehr hoch zu achten (denn das hängt nicht von ihrer Willkür ab); so darf dennoch nur irgendeiner – und wäre es der Schlechteste und Dümmste –, seine Geringschätzung über uns aussprechen, und alsbald ist unsere Ehre verletzt, ja, sie ist auf immer verloren; wenn sie nicht wieder hergestellt wird. – Ein überflüssiger Beleg dazu, dass es keineswegs auf die Meinung anderer, sondern allein auf die Äußerung einer solchen ankomme, ist der, dass Verunglimpfungen zurückgenommen, nötigenfalls abgebeten199 werden können, wodurch es dann ist, als wären sie nie geschehen: ob dabei die Meinung, aus der sie entsprungen, sich ebenfalls geändert habe und weshalb dies geschehen sein sollte, tut nichts zur Sache: nur die Äußerung wird annulliert200 und dann ist alles gut. Hier ist es demnach nicht darauf abgesehen, Respekt zu verdienen, sondern ihn zu ertrotzen.
2. Die Ehre eines Mannes beruht nicht auf dem, was er tut, sondern auf dem, was er leidet, was ihm widerfährt. Wenn, nach den Grundsätzen der zuerst erörterten, allgemein geltenden Ehre, diese allein abhängt von dem, was er selbst sagt, oder tut, so hängt hingegen die ritterliche Ehre ab von dem, was irgendein anderer sagt, oder tut. Sie liegt sonach in der Hand, ja, hängt an der Zungenspitze eines jeden, und kann, wenn dieser zugreift, jeden Augenblick auf immer verloren gehen, falls nicht der Betroffene durch einen bald zu erwähnenden Herstellungsprozess sie wieder an sich reißt, welches jedoch nur mit Gefahr seines Lebens, seiner Gesundheit, seiner Freiheit, seines Eigentums und seiner Gemütsruhe geschehen kann. Diesem zufolge mag das Tun und Lassen eines Mannes das rechtschaffenste und edelste, sein Gemüt das reinste und sein Kopf der eminenteste sein; so kann dennoch seine Ehre jeden Augenblick verloren gehen, sobald es nämlich irgendeinem – der nur noch nicht diese Ehrengesetze verletzt hat, übrigens aber der nichtswürdigste Lump, das stupideste Vieh, ein Tagedieb, Spieler, Schuldenmacher, kurz, ein Mensch, der nicht wert ist, dass jener ihn ansieht, sein kann – beliebt, ihn zu schimpfen. Sogar wird es meistenteils gerade ein Subjekt solcher Art sein, dem dies beliebt; weil eben, wie Seneca richtig bemerkt: je mehr einer verachtet und verspottet wird, umso größeren Lauf lässt er seiner Zunge: auch wird ein solcher gerade gegen einen, wie der zuerst Geschilderte, am leichtesten aufgereizt werden; weil die Gegensätze sich hassen und weil der Anblick überwiegender Vorzüge die stille Wut der Nichtswürdigkeit zu erzeugen pflegt; daher eben Goethe sagt:
Was klagst du über Feinde?
Sollten solche je werden Freunde,
Denen das Wesen, wie du bist,
Im Stillen ein ewiger Vorwurf ist?
W. Ö. Divan.
Man sieht, wie sehr viel gerade die Leute der zuletzt geschilderten Art dem Ehrenprinzip zu danken haben; da es sie mit denen nivelliert, welche ihnen sonst in jeder Beziehung unerreichbar wären. – Hat nun ein solcher geschimpft, d. h. dem andern eine schlechte Eigenschaft zugesprochen, so gilt dies vorderhand, als ein objektiv wahres und gegründetes Urteil, ein rechtskräftiges Dekret201, ja, es bleibt für alle Zukunft wahr und gültig, wenn es nicht alsbald mit Blut ausgelöscht wird: d. h. der Geschimpfte bleibt (in den Augen aller »Leute von Ehre«) das, was der Schimpfer (und wäre dieser der letzte aller Erdensöhne) ihn genannt hat: denn er hat es »auf sich sitzen lassen.« Demgemäß werden die »Leute von Ehre« ihn jetzt durchaus verachten, ihn wie einen Verpesteten fliehen, z. B. sich laut und öffentlich weigern, in eine Gesellschaft zu gehn, wo er Zutritt hat, usf. – Den Ursprung dieser weisen Grundansicht glaube ich mit Sicherheit darauf zurückführen zu können, dass im Mittelalter, bis ins 15. Jahrhundert, bei Kriminalprozessen, nicht der Ankläger die Schuld, sondern der Angeklagte seine Unschuld zu beweisen hatte. Dies konnte geschehn durch einen Reinigungseid, zu welchem er jedoch noch der Eideshelfer bedurfte, welche beschworen, sie seien überzeugt, dass er keines Meineides fähig sei. Hatte er diese nicht, oder ließ der Ankläger sie nicht gelten; so trat Gottesurteil ein und dieses bestand gewöhnlich im Zweikampf. Denn der Angeklagte war jetzt ein »Bescholtener« und hatte sich zu reinigen. Wir sehen hier den Ursprung des Begriffs des Bescholtenseins und des genauen Hergangs der Dinge, wie er noch heute unter den »Leuten von Ehre« stattfindet, nur mit Weglassung des Eides. Eben hier ergibt sich auch die Erklärung der obligaten202, hohen Indignation203, mit welcher »Leute von Ehre« den Vorwurf der Lüge, empfangen und blutige Rache dafür fordern, welche, bei der Alltäglichkeit der Lügen, sehr seltsam erscheint, aber besonders in England zum tiefwurzelnden Aberglaube erwachsen ist. Nämlich in jenen Kriminalprozessen des Mittelalters war die kürzere Form, dass der Angeklagte dem Ankläger erwiderte: »Das lügst du;« worauf dann sofort auf Gottesurteil erkannt wurde: daher also schreibt es sich, dass, nach dem ritterlichen Ehrenkodex, auf den Vorwurf der Lüge sogleich die Appelation204 an die Waffen erfolgen muss. – So viel, was das Schimpfen betrifft. Nun aber gibt es sogar noch etwas Ärgeres, als Schimpfen, etwas so Erschreckliches, dass ich wegen dessen bloßer Erwähnung in diesem Kodex der ritterlichen Ehre, die »Leute von Ehre« um Verzeihung zu bitten habe, da ich weiß, dass beim bloßen Gedanken daran ihnen die Haut schaudert und ihr Haar sich empor sträubt, indem es das summum malum, der Übel größtes auf der Welt, und ärger als Tod und Verdammnis ist. Es kann nämlich, irrtümlich gesagt, einer dem andern einen Klaps, oder Schlag versetzen. Dies ist eine entsetzliche Begebenheit und führt einen so kompletten Ehrentod herbei, dass, wenn alle andern Verletzungen der Ehre schon durch Blutlassen zu heilen sind, diese zu ihrer gründlichen Heilung einen kompletten Todschlag erfordert.
3. Die Ehre hat mit dem, was der Mensch an und für sich sein mag, oder mit der Frage, ob seine moralische Beschaffenheit sich jemals ändern könne, und allen solchen Schulfuchsereien, ganz und gar nichts zu tun, sondern wenn sie verletzt, oder vorderhand verloren ist, kann sie, wenn man nur schleunigst dazutut, recht bald und vollkommen wiederhergestellt werden, durch ein einziges Universalmittel, das Duell.
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