Denn weder Griechen noch Römer, noch die hochgebildeten asiatischen Völker, alter und neuer Zeit, wissen irgendetwas von dieser Ehre und ihren Grundsätzen. Sie alle kennen keine andere Ehre, als die zuerst analysierte. Bei ihnen allen gilt demnach der Mann für das, wofür sein Tun und Lassen ihn kund gibt, nicht aber für das, was irgendeiner losen Zunge beliebt von ihm zu sagen. Bei ihnen allen kann was einer sagt, oder tut, wohl seine eigene Ehre vernichten, aber nie die eines andern. Ein Schlag ist bei ihnen allen eben nur ein Schlag, wie jedes Pferd und jeder Esel ihn gefährlicher versetzen kann: er wird, nach Umständen, zum Zorne reizen, auch wohl auf der Stelle gerächt werden: aber mit der Ehre hat er nichts zu tun, und keineswegs wird Buch gehalten, über Schläge oder Schimpfwörter, nebst der dafür gewordenen, oder aber einzufordern versäumten »Satisfaktion«215. An Tapferkeit und Lebensverachtung stehen sie den Völkern des christlichen Europas nicht nach. Griechen und Römer waren doch wohl ganze Helden: aber sie wussten nichts vom Ehrenkodex. Der Zweikampf war bei ihnen nicht Sache der Edeln im Volke, sondern feiler216 Gladiatoren, preisgegebener Sklaven und verurteilter Verbrecher, welche, mit wilden Tieren abwechselnd, aufeinander gehetzt wurden, zur Belustigung des Volkes. Bei Einführung des Christentums wurden die Gladiatorenspiele aufgehoben: an ihre Stelle aber ist, in der christlichen Zeit unter Vermittlung des Gottesurteils, das Duell getreten. Waren jene ein grausames Opfer, der allgemeinen Schaulust gebracht, so ist dieses ein grausames Opfer, dem allgemeinen Vorurteil gebracht; aber nicht wie jenes, von Verbrechern, Sklaven und Gefangenen; sondern von Freien und Edlen.
Dass den Alten jedes Vorurteil völlig fremd war, bezeugen eine Menge uns aufbehaltener Züge. Als z. B. ein Teutonischer217 Häuptling den Marius218 zum Zweikampf herausgefordert hatte, ließ dieser Held ihm antworten: »wenn er seines Lebens überdrüssig wäre, möge er sich aufhängen«, bot ihm jedoch einen ausgedienten Gladiator an, mit dem er sich herumschlagen könne. Im Plutarch219 lesen wir, dass der Flottenbefehlshaber Eurybiades220, mit dem Themistokles221 streitend, den Stock aufgehoben habe, ihn zu schlagen; jedoch nicht, dass dieser darauf den Degen gezogen, vielmehr, dass er gesagt habe: »schlage mich, aber höre mich.« Mit welchem Unwillen muss doch der Leser »von Ehre« hierbei die Nachricht vermissen, dass das Atheniensische Offizierkorps sofort erklärt habe, unter so einem Themistokles nicht ferner dienen zu wollen! – Ferner zeigt die Stelle im Plato über die Misshandlungen, zur Genüge, dass die Alten von der Ansicht des ritterlichen Ehrenpunktes bei solchen Sachen keine Ahnung hatten. Sokrates ist, infolge seiner häufigen Disputationen222, oft tätlich misshandelt worden, welches er gelassen ertrug: als er einst einen Fußtritt erhielt, nahm er es geduldig hin und sagte dem, der sich hierüber wunderte: »würde ich denn, wenn mich ein Esel gestoßen hätte, ihn verklagen?« – Als ein andermal jemand zu ihm sagte: »schimpft und schmäht dich denn jener nicht?« war seine Antwort: »nein: denn was er sagt passt nicht auf mich.« – Stobäos hat eine lange Stelle des Musonius223 uns aufbewahrt, daraus zu ersehen, wie die Alten die Injurien betrachteten: sie kannten keine andere Genugtuung, als die gerichtliche; und weise Männer verschmähten auch diese. Dass die Alten für eine erhaltene Ohrfeige keine andere Genugtuung kannten, als eine gerichtliche, ist deutlich zu ersehen aus Platos Gorgias224; woselbst auch die Meinung des Sokrates darüber steht. Wir sehen also, dass den Alten das ganze ritterliche Ehrenprinzip durchaus unbekannt war, weil sie eben in allen Stücken der unbefangenen, natürlichen Ansicht der Dinge getreu blieben und daher solche finstere und heillose Fratzen sich nicht einreden ließen. Deshalb konnten sie auch einen Schlag ins Gesicht für nichts anderes halten, als was er ist, eine kleine physische Beeinträchtigung; während er den neuern die Katastrophe und ein Thema zu Trauerspielen geworden ist, z. B. im Cid des Corneille225, auch in einem neueren deutschen bürgerlichen Trauerspiele, welches »die Macht der Verhältnisse«226 heißt, aber »die Macht des Vorurteils« heißen sollte: wenn aber gar einmal in der Pariser Nationalversammlung eine Ohrfeige fällt, so hallt ganz Europa davon wieder. Den Leuten »von Ehre« nun aber, welche durch obige klassische Erinnerungen und angeführte Beispiele aus dem Altertume verstimmt sein müssen, empfehle ich, als Gegengift, in Diderots227 Meisterwerke, Jacques le fataliste228, die Geschichte des Herrn Desglands zu lesen, als ein auserlesenes Musterstück moderner ritterlicher Ehrenhaftigkeit, daran sie sich laben und erbauen mögen.
Aus dem Angeführten erhellt zur Genüge, dass das ritterliche Ehrenprinzip keineswegs ein ursprüngliches, in der menschlichen Natur selbst gegründetes sein kann. Es ist also ein künstliches, und sein Ursprung ist nicht schwer zu finden. Es ist offenbar ein Kind jener Zeit, wo die Fäuste geübter waren, als die Köpfe, und die Pfaffen die Vernunft in Ketten hielten, also des belobten Mittelalters und seines Rittertums. Damals nämlich ließ man für sich den lieben Gott nicht nur sorgen, sondern auch urteilen. Demnach werden schwierige Rechtsfälle durch Ordalien229 oder Gottesurteile entschieden: diese nun bestanden mit wenigen Ausnahmen in Zweikämpfen, keineswegs bloß unter Rittern, sondern auch unter Bürgern; – wie dies ein artiges Beispiel in Shakespeares Heinrich VI.230 bezeugt. Auch konnte von jedem richterlichen Urteilsspruch immer noch an den Zweikampf als die höhere Instanz, nämlich das Urteil Gottes, appelliert werden. Dadurch war nur eigentlich die physische Kraft und Gewandtheit, also die tierische Natur, statt der Vernunft auf den Richterstuhl gesetzt, und über Recht oder Unrecht entschied nicht was einer getan hatte, sondern was ihm widerfuhr – ganz nach dem noch heute geltenden ritterlichen Ehrenprinzip. Wer an diesem Ursprunge des Duellwesens noch zweifelt, lese das vortreffliche Buch von J. G. Mellingen, die Geschichte des Duells, 1849.
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