Oft finden wir etwas ganz anderes, ja, besseres, als wir suchten; oft auch das Gesuchte selbst auf einem ganz anderen Wege, als den wir zuerst vergeblich danach eingeschlagen hatten. Zumal wird uns oft da, wo wir, Genuss, Glück, Freude suchten, statt ihrer Belehrung, Einsicht, Erkenntnis – ein bleibendes, wahrhaftes Gut, statt eines vergänglichen und scheinbaren. Dies ist auch der Gedanke, welcher in Wilhelm Meister als Grundbass330 durchgeht, indem dieser ein intellektueller Roman und eben dadurch höherer Art ist, als alle übrigen, sogar die von Walter Scott331, als welche sämtlich nun ethisch sind, d. h. die menschliche Natur bloß von der Willensseite auffassen. Ebenfalls in der Zauberflöte332, dieser grotesken, aber bedeutsamen und vieldeutigen Hieroglyphe, ist jener selbe Grundgedanke, in großen und groben Zügen, wie die der Theaterdekorationen sind, symbolisiert; sogar würde er es vollkommen sein, wenn, am Schlusse, der Tamino, vom Wunsche, die Tamina zu besitzen, zurückgebracht, statt ihrer, allein die Weihe im Tempel der Weisheit verlangte und erhielte; hingegen seinem notwendigen Gegensatze, dem Papageno, richtig seine Papagena würde. – Vorzügliche und edle Menschen werden jener Erziehung des Schicksals bald inne und fügen sich bildsam und dankbar in dieselbe: sie sehn ein, dass in der Welt wohl Belehrung, aber nicht Glück zu finden sei, werden es sonach gewohnt und zufrieden, Hoffnungen gegen Einsichten zu vertauschen, und sagen endlich mit Petrarca333:

Ein ander Vergnügen, als das zu lernen, lass ich nicht gelten.

Er kann damit sogar dahin kommen, dass sie ihren Wünschen und Bestrebungen gewissermaßen nur noch zum Schein und tändelnd334 nachgehen, eigentlich aber und im Ernste ihres Innern, bloß Belehrung erwarten; welches ihnen alsdann einen beschaulichen, genialen, erhabenen Anstrich gibt. – Man kann in diesem Sinne auch sagen, es gehe uns wie den Alchemisten335, welche, indem sie nur Gold suchten, Schießpulver, Porzellan, Arzneien, ja Naturgesetze entdeckten.

B Unser Verhalten gegen uns selbst betreffend.

4. Wie der Arbeiter, welcher ein Gebäude aufführen hilft, den Plan des Ganzen entweder nicht kennt, oder doch nicht immer gegenwärtig hat, so verhält der Mensch, indem er die einzelnen Tage und Stunden seines Lebens abspinnt, sich zum Ganzen seines Lebenslaufes und des Charakters desselben. Je würdiger, bedeutender, planvoller und individueller dieser ist, desto mehr ist es nötig und wohltätig, dass der verkleinerte Grundriss desselben, der Plan ihm bisweilen vor die Augen komme. Freilich gehört auch dazu, dass er einen kleinen Anfang in dem »Erkenne dich selbst«336 gemacht habe, also wisse, was er eigentlich, hauptsächlich und vor allem andern will, was also für sein Glück das Wesentlichste ist, sodann was die zweite und dritte Stelle nach diesem einnimmt; wie auch, dass er erkenne, welches, im ganzen, sein Beruf, seine Rolle und sein Verhältnis zur Welt sei: Ist nun dieses bedeutender und grandioser Art; so wird der Anblick des Planes seines Lebens, im verjüngten Maßstabe, ihn, mehr als irgend etwas, stärken, aufrichten, erheben, zur Tätigkeit ermuntern und von Abwegen zurückhalten.

Wie der Wanderer erst, wenn er auf einer Höhe angekommen ist, den zurückgelegten Weg, mit allen seinen Wendungen und Krümmungen, im Zusammenhange überblickt und erkennt; so erkennen wir erst am Ende einer Periode unseres Lebens, oder gar des ganzen, den wahren Zusammenhang unserer Taten, Leistungen und Werke, die genaue Konsequenz und Verkettung, ja, auch den Wert derselben. Denn, so lange wir darin begriffen sind, handeln wir nur immer nach den feststehenden Eigenschaften unseres Charakters, unter dem Einfluss der Motive, und nach dem Maße unserer Fähigkeiten, also durchweg mit Notwendigkeit, indem wir in jedem Augenblicke bloß tun, was uns jetzt eben das Rechte und Angemessene dünkt. Erst der Erfolg zeigt, was dabei herausgekommen, und der Rückblick auf den ganzen Zusammenhang das Wie und Wodurch. Daher eben auch sind wir, während wir die größten Taten vollbringen, oder unsterbliche Werke schaffen, uns derselben nicht als solcher bewusst, sondern bloß als des unsern gegenwärtigen Zwecken angemessenen, unsern damaligen Absichten entsprechenden also jetzt gerade rechten: aber erst aus dem Ganzen in seinem Zusammenhang leuchtet nachher unser Charakter und unsere Fähigkeiten hervor: und im einzelnen sehen wir dann, wie wir, als wäre es durch Inspiration geschehn, den einzig richtigen Weg, unter tausend Abwegen, eingeschlagen haben – von unserm Genius geleitet. Dies alles gilt vom Theoretischen, wie vom Praktischen, und im umgekehrten Sinne vom Schlechten und Verfehlten.

5. Ein wichtiger Punkt der Lebensweisheit besteht in dem richtigen Verhältnis, in welchem wir unsere Aufmerksamkeit teils der Gegenwart, teils der Zukunft widmen, damit nicht die eine uns die andere verderbe. Viele leben zu sehr in der Gegenwart; die Leichtsinnigen. Andere zu sehr in der Zukunft: die Ängstlichen und Besorglichen. Selten wird einer genau das rechte Maß halten. Die, welche, mittelst Streben und Hoffen, nur in der Zukunft leben, immer vorwärts sehen und mit Ungeduld den kommenden Dingen entgegeneilen, als welche allererst das wahre Glück bringen sollen, inzwischen aber die Gegenwart unbeachtet und ungenossen vorbeiziehen lassen, sind, trotz ihrer altklugen Mienen, jenen Eseln in Italien zu vergleichen, deren Schritt dadurch beschleunigt wird, dass an einem, ihrem Kopf angehefteten Stock ein Bündel Heu hängt, welches sie daher stets dicht vor sich sehen und zu erreichen hoffen. Denn sie betrügen sich selbst um ihr ganzes Dasein, indem sie stets nur ad interim337 leben, – bis sie tot sind. – Statt also mit den Plänen und Sorgen für die Zukunft ausschließlich und immerdar beschäftigt zu sein, oder aber uns die Sehnsucht nach der Vergangenheit hinzugeben, sollten wir nie vergessen, dass die Gegenwart allein real und allein gewiss ist; hingegen die Zukunft fast immer anders ausfällt, als wir sie denken; ja, auch die Vergangenheit anders war; und zwar so, dass es mit beiden, im ganzen, weniger auf sich hat, als es uns scheint. Denn die Ferne, welche dem Auge die Gegenstände verkleinert, vergrößert sie den Gedanken. Die Gegenwart allein ist wahr und wirklich: sie ist die real erfüllte Zeit, und ausschließlich in ihr liegt unser Dasein. Daher sollten wir sie stets einer heitern Aufnahme würdigen, folglich jede erträgliche und von unmittelbaren Widerwärtigkeiten oder Schmerzen freie Stunde mit Bewusstsein als solche genießen, d. h. sie nicht trüben durch verdrießliche Gesichter über verfehlte Hoffnungen in der Vergangenheit, oder Besorgnisse für die Zukunft. Denn es ist durchaus töricht, eine gute gegenwärtige Stunde von sich zu stoßen, oder sie sich mutwillig zu verderben, aus Verdruss über das Vergangene, oder Besorgnis wegen des Kommenden. Der Sorge, ja, selbst der Reue, sei ihre bestimmte Zeit gewidmet: danach aber soll man über das Geschehene denken:

Aber so sehr es uns kränkte, wir wollen es lassen geschehen sein
und, so schwer es uns wird, den Unmut zähmen im Herzen.

und über das Künftige:

Das liegt nur im Schoße der Götter (Seneca),

hingegen über die Gegenwart: Jeden einzelnen Tag sieh als besonderes Leben an; und diese allein reale Zeit sich so angenehm wie möglich machen.

Uns zu beunruhigen sind bloß solche künftige Übel berechtigt, welche gewiss sind und deren Eintrittszeit ebenfalls gewiss ist. Dies werden aber sehr wenige sein: denn die Übel sind entweder bloß möglich, allenfalls wahrscheinlich; oder sie sind zwar gewiss; allein ihre Eintrittszeit ist völlig ungewiss.