Lässt man nun auf diesen beiden Arten sich ein; so hat man keinen ruhigen Augenblick mehr. Um also nicht der Ruhe unseres Lebens durch ungewisse, oder unbestimmte Übel verlustig zu werden, müssen wir uns gewöhnen, jene anzusehen, als kämen sie nie; diese, als kämen sie gewiss nicht sobald.

Je mehr nun aber einem die Furcht Ruhe lässt, desto mehr beunruhigen ihn die Wünsche, die Begierden und Ansprüche. Goethes so beliebtes Lied: »ich hab mein’ Sach auf nichts gestellt«, besagt eigentlich, dass erst nachdem der Mensch aus allen möglichen Ansprüchen heraus getrieben und auf das nackte, halbe Dasein zurückgewiesen ist, er derjenigen Geistesruhe teilhaftig wird, welche die Grundlage des menschlichen Glückes ausmacht, indem sie nötig ist, um die Gegenwart, und somit das ganze Leben, genießbar zu finden. Zu eben diesem Zwecke sollten wir stets eingedenk sein, dass der heutige Tag nur einmal kommt und nimmer wieder. Aber wir wähnen, er komme morgen wieder: morgen ist jedoch ein anderer Tag, der auch nur einmal kommt Wir aber vergessen, dass jeder Tag ein integrierender und daher unersetzlicher Teil des Lebens ist, und betrachten ihn vielmehr als unter demselben so enthalten, wie die Individuen unter dem Gemeinbegriff. – Ebenfalls würden wir die Gegenwart besser würdigen und genießen, wenn wir in guten und gesunden Tagen, uns stets bewusst wären, wie in Krankheiten, oder Betrübnissen, die Erinnerung uns jede schmerz- und entbehrungslose Stunde als unendlich beneidenswert, als ein verlorenes Paradies, als einen verkannten Freund vorhält. Aber wir verleben unsere schönen Tage, ohne sie zu bemerken: erst wenn die schlimmen kommen, wünschen wir jene zurück. Tausend heitere, angenehme Stunden lassen wir, mit verdrießlichem Gesicht, ungenossen an uns vorüberziehen, um nachher, zur trüben Zeit, mit vergeblicher Sehnsucht ihnen nachzuseufzen. Statt dessen sollten wir jede erträgliche Gegenwart, auch die alltägliche, welche wir jetzt so gleichgültig herüberziehen lassen, und wohl gar noch ungeduldig nachschieben, – in Ehren halten, stets eingedenk, dass sie eben jetzt hinüber wallt in jene Apotheose 338 der Vergangenheit, woselbst sie fortan, vom Lichte der Unvergänglichkeit umstrahlt, vom Gedächtnisse aufbewahrt wird, um, wann dieses einst, besonders zur schlimmen Stunde, den Vorhang lüftet, als ein Gegenstand unserer innigen Sehnsucht sich darzustellen.

6. Alle Beschränkung beglückt. Je enger unser Gesichts-, Wirkungs- und Berührungskreis, desto glücklicher sind wir: je weiter, desto öfter fühlen wir uns gequält, oder geängstigt. Denn mit ihm vermehren und vergrößern sich die Sorgen, Wünsche und Schrecknisse. Darum sind sogar Blinde nicht so unglücklich, wie es uns a priori339 scheinen muss: dies bezeugt die sanfte, fast heitere Ruhe in ihren Gesichtszügen. Auch beruht es zum Teil auf dieser Regel, dass die zweite Hälfte des Lebens trauriger ausfällt, als die erste. Denn im Laufe des Lebens wird der Horizont unserer Zwecke und Beziehungen immer weiter: In der Kindheit ist er auf die nächste Umgebung und die engsten Verhältnisse beschränkt; im Jünglingsalter reicht er schon bedeutend weiter; im Mannesalter umfasst er unsern ganzen Lebenslauf, ja, erstreckt sich oft auf die entferntesten Verhältnisse, auf Staaten und Völker; im Greisen alter umfasst er die Nachkommen. – Jede Beschränkung hingegen, sogar die geistige, ist unserm Glücke förderlich. Denn je weniger Erregung des Willens, desto weniger Leiden: und wir wissen, dass das Leiden das Positive, das Glück bloß negativ ist. Beschränktheit des Wirkungskreises benimmt dem Willen die äußeren Veranlassungen zur Erregung; Beschränktheit des Geistes die Innern. Nur hat letztere den Nachteil, dass sie der Langenweile die Tür öffnet, welche mittelbar die Quelle unzähliger Leiden wird, indem man, um nur sie zu bannen, nach allem greift, also Zerstreuung, Gesellschaft, Luxus, Spiel, Trunk usf. versucht, welche jedoch Schaden, Ruin und Unglück jeder Art herbeiziehen. Wie sehr hingegen die äußere Beschränkung dem menschlichen Glücke, so weit es gehen kann, förderlich, ja, notwendig sei, ist daran ersichtlich, dass die einzige Dichtungsart, welche glückliche Menschen zu schildern unternimmt, das Idyll340, sie stets und wesentlich in höchst beschränkter Lage und Umgebung darstellt. Das Gefühl der Sache liegt auch unserm Wohlgefallen an den sogenannten Genre-Bildern341 zugrunde. – Demgemäß wird die möglichste Einfachheit unserer Verhältnisse und sogar die Einförmigkeit der Lebensweise, so lange sie nicht Langeweile erzeugt, beglücken; weil sie das Leben selbst, folglich auch die ihm wesentliche Last, am wenigsten spüren lässt, es fließt dahin wie ein Bach, ohne Wellen und Strudel.

7. In Hinsicht auf unser Wohl und Wehe kommt es in letzter Instanz darauf an, womit das Bewusstsein erfüllt und beschäftigt sei. Hier wird nun im ganzen jede rein intellektuelle Beschäftigung dem ihrer fähigen Geiste viel mehr leisten, als das wirkliche Leben, mit seinem beständigen Wechsel des Gelingens und Misslingens, nebst seinen Erschütterungen und Plagen. Nur sind dazu freilich schon überwiegende geistige Anlagen erfordert. Sodann ist hierbei zu bemerken, dass, wie das nach außen tätige Leben uns von den Studien zerstreut und ablenkt, auch dem Geiste die dazu erforderliche Ruhe und Sammlung benimmt; ebenso andrerseits die anhaltende Geistesbeschäftigung zum Treiben und Tummeln des wirklichen Lebens, mehr oder weniger, untüchtig macht: daher ist es ratsam, dieselbe auf eine Weile ganz einzustellen, wenn Umstände eintreten, die irgendwie eine energische praktische Tätigkeit erfordern.

8. Um mit vollkommener Besonnenheit zu leben und aus der eigenen Erfahrung alle Belehrung, die sie enthält, herauszuziehen, ist erfordert, dass man oft zurückdenke und was man erlebt, getan, erfahren und dabei empfunden hat rekapituliere342, auch sein ehemaliges Urteil mit seinem gegenwärtigen, seinem Vorsatze und Streben mit dem Erfolg und der Befriedigung durch denselben vergleiche. Dies ist die Repetition343 des Privatissimums344, welches jedem die Erfahrung liest. Auch lässt die eigene Erfahrung sich ansehn als der Text; Nachdenken und Kenntnisse als der Kommentar dazu.