Viel Nachdenken und Kenntnisse, bei wenig Erfahrung, gleicht den Ausgaben, deren Seiten zwei Zeilen Text und vierzig Zeilen Kommentar darbieten. Viel Erfahrung, bei wenig Nachdenken und geringen Kenntnissen, gleicht den bipontinischen345 Ausgaben, ohne Noten, welche vieles unverstanden lassen. Auf die hier gegebene Anempfehlung zielt auch die Regel des Pythagoras346, dass man abends, vor dem Einschlafen, durchmustern solle, was man den Tag über getan hat. Wer im Getümmel der Geschäfte, oder Vergnügungen, dahinlebt, ohne je seine Vergangenheit zu ruminieren, vielmehr nur immerfort sein Leben abhaspelt, dem geht die klare Besonnenheit verloren: sein Gemüt wird ein Chaos, und eine gewisse Verworrenheit kommt in seine Gedanken, von welcher alsbald das Abrupte, Fragmentarische, gleichsam Kleingehackte seiner Konversation zeugt. Dies ist umso mehr der Fall je größer die äußre Unruhe, die Menge der Eindrücke, und je geringer die innere Tätigkeit seines Geistes ist.

Hierher gehört die Bemerkung, dass, nach länger Zeit und nachdem die Verhältnisse und Umgebungen, welche auf uns einwirkten, vorübergegangen sind, wir nicht vermögen, unsere damals durch sie erregte Stimmung und Empfindung uns zurückzurufen und zu erneuern: wohl aber können wir unserer eigenen, damals von ihnen hervorgerufenen Äußerungen uns erinnern. Diese nun sind das Resultat, der Ausdruck und der Maßstab jener. Dafür sollte das Gedächtnis, oder das Papier, dergleichen, aus denkwürdigen Zeitpunkten, sorgfältig aufbewahren. Hierzu sind Tagebücher sehr nützlich.

9. Sich selber genügen, sich selber alles in allem sein, und sagen können: alles meinige trage ich mit mir, ist gewiss für unser Glück die förderlichste Eigenschaft: daher der Ausspruch des Aristoteles: Den Selbstgenügsamen gehört das Glück; – nicht zu oft wiederholt werden kann. (Auch ist es im Wesentlichen derselbe Gedanke, den in einer überaus artigen Wendung die Sentenz347 Chamforts ausdrückt, welche ich dieser Abhandlung als Motto vorgesetzt habe.) Denn teils darf man, mit einiger Sicherheit, auf niemand zählen, als auf sich selbst, und teils sind die Beschwerden und Nachteile, die Gefahr und der Verdruss, welche die Gesellschaft mit sich führt, unzählig und unausweichbar.

Kein verkehrterer Weg zum Glück, als das Leben in der großen Welt, in Saus und Braus: denn es bezweckt, unser elendes Dasein in eine Sukzession von Freude, Genuss, Vergnügen zu verwandeln, wobei die Enttäuschung nicht ausbleiben kann; so wenig, wie bei der obligaten Begleitung dazu, dem gegenseitigen einander Belügen. Zunächst erfordert jede Gesellschaft notwendig eine gegenseitige Accommodation und Temperatur; daher wird sie, je größer, desto fader. Ganz er selbst sein darf jeder nur so lange er allein ist: wer also nicht die Einsamkeit liebt, der liebt auch nicht die Freiheit: denn nur wenn man allein ist, ist man frei: Zwang ist der unzertrennliche Gefährte jeder Gesellschaft, und jede fordert Opfer, die umso schwerer fallen, je bedeutender die eigene Individualität ist. Demgemäß wird jeder in genauer Proportion zum Werte seines eigenen Selbst die Einsamkeit fliehen, ertragen, oder lieben. Denn in ihr fühlt der Jämmerliche seine ganze Jämmerlichkeit, der große Geist seine ganze Größe, kurz, jeder sich, als was er ist. Ferner, je höher einer auf der Rangliste der Natur steht, desto einsamer steht er, und zwar wesentlich und unvermeidlich. Dann aber ist es eine Wohltat für ihn, wenn die physische Einsamkeit der geistigen entspricht: widrigenfalls dringt die häufige Umgebung heterogener Wesen störend, ja, feindlich auf ihn ein, raubt ihm sein Selbst und hat nichts als Ersatz dafür zu geben. Sodann, während die Natur zwischen Menschen die weiteste Verschiedenheit, im Moralischen und Intellektuellen, gesetzt hat, stellt die Gesellschaft, diese für nichts achtend, sie alle gleich, oder vielmehr sie setzt an ihre Stelle die künstlichen Unterschiede und Stufen des Standes und Ranges, welche der Rangliste der Natur sehr oft diametral entgegenlaufen. Bei dieser Anordnung stehen sich die, welche die Natur niedrig gestellt hat, sehr gut; die wenigen aber, welche sie hoch stellte, kommen dabei zu kurz; daher diese sich der Gesellschaft zu entziehen pflegen und in jeder, sobald sie zahlreich ist, das Gemeine vorherrscht. Was den großen Geistern die Gesellschaft verleidet, ist die Gleichheit der Rechte, folglich der Ansprüche, bei der Ungleichheit der Fähigkeiten, folglich der (gesellschaftlichen) Leistungen, der andern. Die sogenannte gute Sozietät348 lässt Vorzüge aller Art gelten, nur nicht die geistigen, diese sind sogar Kontrebande349. Sie verpflichtet uns, gegen jede Torheit, Narrheit, Verkehrtheit, Stumpfheit, grenzenlose Geduld zu beweisen; persönliche Vorzüge hingegen sollen sich Verzeihung erbetteln, oder sich verbergen; denn die geistige Überlegenheit verletzt durch ihre bloße Existenz, ohne alles Zutun des Willens. Demnach hat die Gesellschaft, welche man die gute nennt, nicht nur den Nachteil, dass sie uns Menschen darbietet, die wir nicht loben und lieben können, sondern sie lässt auch nicht zu, dass wir selbst seien, wie es unserer Natur angemessen ist; vielmehr nötigt sie uns, des Einklanges mit den anderen wegen, einzuschrumpfen, oder gar uns selbst zu verunstalten. Geistreiche Reden oder Einfälle gehören nur vor geistreiche Gesellschaft: in der gewöhnlichen sind sie geradezu verhasst; denn um in dieser zu gefallen, ist durchaus notwendig, dass man platt und borniert sei. In solcher Gesellschaft müssen wir daher mit schwerer Selbstverleugnung dreiviertel unserer selbst aufgeben, um uns den andern zu verähnlichen. Dafür haben wir dann freilich die andern: aber je mehr eigenen Wert einer hat, desto mehr wird er finden, dass hier der Gewinn den Verlust nicht deckt und das Geschäft zu seinem Nachteil ausschlägt; weil die Leute, in der Regel, insolvent350 sind, d. h. in ihrem Umgang nichts haben, das für die Langweiligkeit, die Beschwerden und Unannehmlichkeiten desselben und für die Selbstverleugnung, die er auflegt, schadlos hielte: demnach ist die allermeiste Gesellschaft so beschaffen, dass, wer sie gegen die Einsamkeit vertauscht, einen guten Handel macht. Dazu kommt noch, dass die Gesellschaft, um die echte, d. i. die geistige Überlegenheit, welche sie nicht verträgt und die auch schwer zu finden ist, zu ersetzen, eine falsche, konventionelle, auf willkürlichen Satzungen beruhende und traditionell, unter den höheren Ständen sich fortpflanzende, auch, wie die Parole, veränderliche Überlegenheit, beliebig angenommen hat: diese ist, was der gute Ton genannt wird.