Denn der Morgen ist die Jugend des Tages: Alles ist heiter, frisch und leicht: wir fühlen uns kräftig und haben alle unsere Fähigkeiten zu völliger Disposition393. Man soll ihn nicht durch spätes Aufstehen verkürzen, noch auch an unwürdige Beschäftigungen oder Gespräche verschwenden, sondern ihn als die Quintessenz394 des Lebens betrachten und gewissermaßen heilig halten. Hingegen ist der Abend das Alter des Tages: wir sind abends matt, geschwätzig und leichtsinnig. – Jeder Tag ist ein kleines Leben – jedes Erwachen und Aufstehen eine kleine Geburt, jeder frische Morgen eine kleine Jugend, und jedes Zubettgehen und Einschlafen ein kleiner Tod.

Überhaupt aber hat Gesundheitszustand, Schlaf, Nahrung, Temperatur, Wetter, Umgebung und noch viel anderes Äußerliches auf unsere Stimmung, und diese auf unsere Gedanken einen mächtigen Einfluss. Daher ist, wie unsere Ansicht einer Angelegenheit, so auch unsere Fähigkeit zu einer Leistung so sehr der Zeit und selbst dem Orte unterworfen. Darum also:

»Nehmt die gute Stimmung wahr,
Denn sie kommt so selten.«
G.395

Nicht etwa bloß objektive Konzeptionen396 und Originalgedanken muss man abwarten, ob und wann es ihnen zu kommen beliebt; sondern selbst die gründliche Überlegung einer persönlichen Angelegenheit gelingt immer zu der Zeit, die man zum Voraus für sie bestimmt und wann man sich dazu zurechtgesetzt hat; sondern auch sie wählt sich ihre Zeit selbst; wo alsdann der ihr angemessene Gedankengang unaufgefordert rege wird und wir mit vollem Anteil ihn verfolgen.

Zur anempfohlenen Zügelung der Phantasie gehört auch noch, dass wir ihr nicht gestatten, ehemals erlittenes Unrecht, Schaden, Verlust, Beleidigungen, Zurücksetzungen, Kränkungen u. dergl. uns wieder zu vergegenwärtigen und auszumalen; weil wir dadurch den längst schlummernden Unwillen, Zorn und alle gehässigen Leidenschaften wieder aufregen, wodurch unser Gemüt verunreinigt wird. Denn, nach einem schönen, vom Neuplatoniker397 Proklos398 beigebrachten Gleichnis, ist, wie in jeder Stadt, neben den Edlen und Ausgezeichneten, auch der Pöbel399 jeder Art wohnt, so in jedem, auch dem edelsten und erhabensten Menschen das ganz Niedrige und Gemeine der menschlichen, ja tierischen Natur, der Anlage nach, vorhanden. Dieser Pöbel darf nicht zum Tumult400 aufgeregt werden, noch darf er aus den Fenstern schauen; da er sich hässlich ausnimmt: die bezeichneten Phantasiestücke sind aber die Demagogen401 desselben. Hierher gehört auch, dass die kleinste Widerwärtigkeit, sei sie von Menschen oder Dingen ausgegangen, durch fortgesetztes Brüten darüber und Ausmalen mit grellen Farben und nach vergrößertem Maßstabe, zu einem Ungeheuer anschwellen kann, darüber man außer sich gerät. Alles Unangenehme soll man vielmehr höchst prosaisch und nüchtern auffassen, damit man es möglichst leicht nehmen könne.

Wie kleine Gegenstände, dem Auge nahegehalten, unser Gesichtsfeld beschränkend, die Welt verdecken, – so werden oft die Menschen und Dinge unserer nächsten Umgebung, so höchst unbedeutend und gleichgültig sie auch seien, unsere Aufmerksamkeit und Gedanken über die Gebühr beschäftigen, dazu noch auf unerfreuliche Weise, und werden wichtige Gedanken und Angelegenheiten verdrängen. Dem soll man entgegenarbeiten.

14. Beim Anblick dessen, was wir nicht besitzen, steigt gar leicht in uns der Gedanke auf: »wie, wenn das mein wäre?« – und er macht uns die Entbehrung fühlbar. Statt dessen sollten wir öfter fragen: »wie, wenn das nicht mein wäre?« ich meine, wir sollten das, was wir besitzen, bisweilen so anzusehen uns bemühen, wie es uns vorschweben würde, nachdem wir es verloren hätten; und zwar jedes, was es auch sei: Eigentum, Gesundheit, Freude, Geliebte, Weib, Kind, Pferd und Hund: denn meistens belehrt erst der Verlust uns über den Wert der Dinge. Hingegen infolge der anempfohlenen Betrachtungsweise derselben wird erstlich ihr Besitz uns unmittelbar mehr, als zuvor, beglücken, und zweitens werden wir auf alle Weise dem Verlust vorbeugen, also das Eigentum nicht in Gefahr bringen, die Freunde nicht erzürnen, die Treue des Weibes nicht der Versuchung aussetzen, die Gesundheit der Kinder bewachen usf. Oft suchen wir das Trübe der Gegenwart aufzuhellen durch Spekulation402 auf günstige Möglichkeiten und ersinnen vielerlei chimärische Hoffnungen, von denen jede mit einer Enttäuschung schwanger ist, die nicht ausbleibt, wenn jene an der harten Wirklichkeit zerschellt. Besser wäre es, die vielen schlimmen Möglichkeiten zum Gegenstand unserer Spekulation zu machen, als welches teils Vorkehrungen zu ihrer Abwehr, teils angenehme Überraschungen, wenn sie sich nicht verwirklichen, veranlassen würde. Sind wir doch nach etwas ausgestandener Angst, stets merklich heiter. Ja, es ist sogar gut, große Unglücksfälle, die uns möglicherweise treffen könnten, uns bisweilen zu vergegenwärtigen; um nämlich die uns nachher wirklich treffenden viel kleineren leichter zu ertragen, indem wir dann durch den Rückblick auf jene großen, nicht eingetroffenen, uns trösten. Über diese Regel ist jedoch die ihr vorhergegangene nicht zu vernachlässigen.

15. Weil die uns betreffenden Angelegenheiten und Begebenheiten ganz vereinzelt, ohne Ordnung und ohne Beziehung auf einander, im grellsten Kontrast und ohne irgend etwas Gemeinsames, als eben dass sie unsere Angelegenheiten sind, auftreten und durcheinanderlaufen; so muss unser Denken und Sorgen um sie eben so abrupt sein, damit es ihnen entspreche. – Sonach müssen wir, wenn wir eines vornehmen, von allem andern abstrahieren und uns der Sache entschlagen, um jedes zu seiner Zeit zu besorgen; zu genießen, zu erdulden, ganz unbekümmert um das Übrige: wir müssen also gleichsam Schiebfächer unserer Gedanken haben, von denen wir eines öffnen, derweilen alle anderen geschlossen bleiben. Dadurch erlangen wir, dass nicht eine schwer lastende Sorge jeden kleinen Genuss der Gegenwart verkümmere und uns alle Ruhe raube; dass nicht eine Überlegung die andere verdränge; dass nicht die Sorge für eine wichtige Angelegenheit die Vernachlässigung vieler geringen herbeiführe usf. Zumal aber soll, wer hoher und edler Betrachtungen fähig ist, seinen Geist durch persönliche Angelegenheiten und niedrige Sorgen nie so ganz einnehmen und erfüllen lassen, dass sie jenen den Zugang versperren: denn das wäre recht eigentlich: um des Lebens Kleinigkeit des Lebens Ziel verfehlen. – Freilich ist zu dieser Lenkung und Ablenkung unserer selbst, wie zu so viel anderem, Selbstzwang erfordert: zu diesem aber sollte uns die Überlegung stärken, dass jeder Mensch gar vielen und großen Zwang von außen zu erdulden hat, ohne welchen es in keinem Leben abgeht; dass jedoch ein kleiner, an der rechten Stelle angebrachter Selbstzwang nachmals vielem Zwange von außen vorbeugt; wie ein kleiner Abschnitt des Kreises zunächst dem Centro403 einem oft hundertmal größern an der Peripherie404 entspricht. Durch nichts entziehn wir uns so sehr dem Zwange von außen, wie durch Selbstzwang: das besagt Senecas Ausspruch: Willst du alle Dinge der Gewalt unterwerfen, so unterwirf dich deiner Vernunft. Auch haben wir den Selbstzwang noch immer in der Gewalt, und können, im äußersten Fall, wo er unsere empfindlichste Stelle trifft, etwas nachlassen: hingegen der Zwang von außen ist ohne Rücksicht, ohne Schonung und unbarmherzig. Daher ist es weise, diesem durch jenen zuvorzukommen.

16. Unsern Wünschen ein Ziel stecken, unsere Begierden im Zaume halten, unsern Zorn bändigen, stets eingedenk, dass dem einzelnen nur ein unendlich kleiner Teil alles Wünschenswerten erreichbar ist, hingegen viele Übel jeden treffen müssen, also, mit einem Worte: Sich enthalten und sich zurückhalten – ist eine Regel, ohne deren Beobachtung weder Reichtum noch Macht verhindern können, dass wir uns armselig fühlen. Dahin zielt Horaz: Stets überlege dir und suche den Rat der Weisen, wie du dein Leben in Ruhe zubringen kannst, damit dich nicht ständig rastlose Habsucht plagt und foltert, noch die Angst, noch die Hoffnung auf Besitz unwichtiger Dinge.

17.