Das Leben besteht in der Bewegung, sagte Aristoteles, mit offenbarem Recht: und wie demnach unser physisches Leben nur in und durch eine unaufhörliche Bewegung besteht, so verlangt auch unser inneres, geistiges Leben fortwährend Beschäftigung, Beschäftigung mit irgend etwas, durch Tun oder Denken; einen Beweis hiervon gibt schon das Trommeln mit den Händen oder irgendeinem Gerät; zu welchem unbeschäftigte und gedankenlose Menschen sogleich greifen. Unser Dasein nämlich ist ein wesentlich rastloses: daher wird die gänzliche Untätigkeit uns bald unerträglich, indem sie die entsetzlichste Langeweile herbeiführt. Diesen Trieb nun soll man regeln, um ihn methodisch und dadurch besser zu befriedigen. Daher also ist Tätigkeit, etwas treiben, wo möglich etwas machen, wenigstens aber etwas lernen – zum Glück des Menschen unerlässlich: seine Kräfte verlangen nach ihrem Gebrauch und er möchte den Erfolg desselben irgendwie wahrnehmen. Die größte Befriedigung jedoch, in dieser Hinsicht, gewährt es etwas zu machen, zu verfertigen, sei es ein Korb, sei es ein Buch, aber dass man ein Werk unter seinen Händen täglich wachsen und endlich seine Vollendung erreichen sehe, beglückt unmittelbar. Dies leistet ein Kunstwerk, eine Schrift, ja selbst eine bloße Handarbeit; freilich, je edlerer Art das Werk, desto höher der Genuss. Am glücklichsten sind, in diesem Betracht, die Hochbegabten, welche sich der Fähigkeit zur Hervorbringung bedeutsamer, großer und zusammenhängender Werke bewusst sind. Denn dadurch verbreitet ein Interesse höherer Art sich über ihr ganzes Dasein und erteilt ihm eine Würze, welche dem der übrigen abgeht, welches demnach, mit jenem verglichen, gar schal ist. Für sie nämlich hat das Leben und die Welt, neben dem allen gemeinsamen, materiellen, noch ein zweites und höheres, ein formelles Interesse, indem es den Stoff zu ihren Werken enthält mit dessen Einsammlung sie, ihr Leben hindurch, emsig beschäftigt sind, sobald nur die persönliche Not sie irgend atmen lässt. Auch ist ihr Intellekt gewissermaßen ein doppelter: teils einer für die gewöhnlichen Beziehungen (Angelegenheiten des Willens), gleich dem aller andern: teils einer für die rein objektive Auffassung der Dinge. So leben sie zweifach, sind Zuschauer und Schauspieler zugleich, während die übrigen letzteres allein sind. – Inzwischen treibe jeder etwas, nach Maßgabe seiner Fähigkeiten. Denn wie nachteilig der Mangel an planmäßiger Tätigkeit, an irgend einer Arbeit, auf uns, wirke, merkt man auf langen Vergnügungsreisen, als wo man, dann und wann, sich recht unglücklich fühlt; weil man, ohne eigentliche Beschäftigung, gleichsam aus seinem natürlichen Elemente gerissen ist. Sich zu mühen und mit dem Widerstande zu kämpfen ist dem Menschen Bedürfnis, wie dem Maulwurf das Graben. Der Stillstand, den die Allgenugsamkeit eines bleibenden Genusses herbeiführte, wäre ihm unerträglich. Hindernisse überwinden ist der Vollgenuss seines Daseins; sie mögen materieller Art sein, wie beim Handeln und Treiben oder geistiger Art, wie beim Lernen und Forschen: der Kampf mit ihnen und der Sieg beglückt. Fehlt ihm die Gelegenheit dazu, so macht er sie sich, wie er kann; je nachdem seine Individualität es mit sich bringt, wird er jagen oder Bilboquet405 spielen, oder, vom unbewussten Zuge seiner Natur geleitet, Händel406 suchen, oder Intrigen anspinnen, oder sich auf Betrügereien und allerlei Schlechtigkeiten einlassen, um nur dem ihm unerträglichen Zustande der Ruhe ein Ende zu machen. Schwer ist es, in der Muse ruhig zu leben.

18. Zum Leitstern seiner Bestrebungen soll man nicht Bilder der Phantasie nehmen, sondern deutlich gedachte Begriffe. Meistens aber geschieht das Umgekehrte. Man wird nämlich, bei genauerer Untersuchung, finden, dass, was bei unsern Entschließungen, in letzter Instanz, den Ausschlag gibt, meistens nicht die Begriffe und Urteile sind, sondern ein Phantasiebild, welches die eine der Alternativen repräsentiert und vertritt. Ich weiß nicht mehr, in welchem Romane von Voltaire, oder Diderot, dem Helden, als er ein Jüngling und Herkules am Scheidewege war, die Tugend sich stets darstellte in Gestalt seines alten Hofmeisters, in der Linken die Tabaksdose, in der Rechten eine Prise haltend und so moralisierend; das Laster hingegen in Gestalt der Kammerjungfer seiner Mutter. – Besonders in der Jugend fexiert407 sich das Ziel unseres Glückes in Gestalt einiger Bilder, die uns vorschweben und oft das halbe, ja das ganze Leben hindurch verharren. Sie sind eigentlich neckende Gespenster: denn haben wir sie erreicht, so zerrinnen sie in nichts, indem wir die Erfahrung machen, dass sie gar nichts, von dem was sie verhießen, leisten. Dieser Art sind einzelne Szenen des häuslichen, bürgerlichen, gesellschaftlichen, ländlichen Lebens, Bilder der Wohnung, Umgebung, der Ehrenzeichen, Respektsbezeigungen usf. usf., auch das Bild der Geliebten gehört oft dahin. Dass es uns so ergehe ist wohl natürlich: denn das Anschauliche wirkt, weil es das Unmittelbare ist, auch unmittelbarer auf unsern Willen, als der Begriff, der abstrakte Gedanke, der bloß das allgemeine gibt, ohne das einzelne, welches doch gerade die Realität enthält: er kann daher nur mittelbar auf unsern Willen wirken: Und doch ist es nur der Begriff, der Wert hält: daher ist es Bildung, nur ihm zu trauen. Freilich wird er wohl mitunter der Erläuterung und Paraphrase408 durch einige Bilder bedürfen: nur mit einem Körnchen Salz.

19. Die vorhergegangene Regel lässt sich der allgemeineren subsumieren409, dass man überall Herr werden soll über den Eindruck des Gegenwärtigen und Anschaulichen überhaupt. Dieser ist gegen das bloße Gedachte und Gewusste unverhältnismäßig stark, nicht vermöge seiner Materie und Gehalt, die oft sehr gering sind; sondern vermöge seiner Form, der Anschaulichkeit und Unmittelbarkeit, als welche auf das Gemüt eindringt und dessen Ruhe stört, oder seine Vorsätze erschüttert.