Denn das Vorhandene, das Anschauliche, wirkt, als leicht übersehbar, stets mit seiner ganzen Gewalt auf einmal: hingegen Gedanken und Gründe verlangen Zeit und Ruhe, um stückweise durchdacht zu werden; daher man sie nicht jeden Augenblick ganz gegenwärtig haben kann. Demzufolge reizt das Angenehme, welchem wir, infolge der Überlegung entsagt haben, uns doch bei seinem Anblick: ebenso kränkt uns ein Urteil, dessen gänzliche Inkompetenz wir kennen; erzürnt uns eine Beleidigung, deren Verächtlichkeit wir einsehen; ebenso werden zehn Gründe gegen das Vorhandensein einer Gefahr überwogen vom falschen Schein ihrer wirklichen Gegenwart usf. In allem diesen macht sich die ursprüngliche Unvernünftigkeit unsers Wesens geltend. Auch werden einem derartigen Eindruck die Weiber oft erliegen, und wenige Männer haben ein solches Übergewicht der Vernunft, dass sie von dessen Wirkungen nicht zu leiden hätten. Wo wir nun denselben nicht ganz überwältigen können, mittelst bloßer Gedanken, da ist das beste, einen Eindruck durch den entgegengesetzten zu neutralisieren, z. B, den Eindruck einer Beleidigung durch Aufsuchen derer, die uns hochschätzen, den Eindruck einer drohenden Gefahr durch wirkliches Betrachten des ihr Entgegenwirkenden. Es ist ein schweres Ding, wenn alle, die uns umgeben, anderer Meinung sind, als wir, und danach sich benehmen, selbst wenn wir von ihrem Irrtum überzeugt sind, nicht durch sie wankend gemacht zu werden. Einem flüchtigen, verfolgten, ernstlich inkognito410 reisenden Könige muss das unter vier Augen beobachtete Unterwürfigkeitszeremoniell seines vertrauten Begleiters eine fast notwendige Herzensstärkung sein, damit er nicht am Ende sich selbst bezweifle.

20. Nachdem ich schon im zweiten Kapitel den hohen Wert der Gesundheit, als welche für unser Glück das Erste und Wichtigste ist, hervorgehoben habe, will ich hier ein paar ganz allgemeiner Verhaltungsregeln zu ihrer Befestigung und Bewahrung angeben.

Man härte sich dadurch ab, dass man dem Körper, sowohl im Ganzen, wie in jedem Teile, so lange man gesund ist, recht viel Anstrengung und Beschwerde auflege und sich gewöhne, widrigen Einflüssen jeder Art zu widerstehen. Sobald hingegen ein krankhafter Zustand, sei es des Ganzen, oder eines Teiles, sich kund gibt, ist sogleich das entgegengesetzte Verfahren zu ergreifen und der kranke Leib, oder Teil desselben, auf alle Weise zu schonen und zu pflegen: denn das Leidende und Geschwächte ist keiner Abhärtung fähig.

Der Muskel wird durch starken Gebrauch gestärkt; der Nerv hingegen dadurch geschwächt. Also übe man seine Muskeln durch jede angemessene Anstrengung, hüte hingegen die Nerven vor jeder; also die Augen vor zu hellem, besonders reflektierendem411 Lichte, vor jeder Anstrengung in der Dämmerung, wie auch vor anhaltendem Betrachten zu kleiner Gegenstände; ebenso die Ohren vor zu starkem Geräusch; vorzüglich aber das Gehirn vor gezwungener, zu anhaltender, oder unzeitiger Anstrengung: demnach lasse man es ruhen, während der Verdauung; weil dann eben dieselbe Lebenskraft, welche im Gehirn Gedanken bildet, im Magen und den Eingeweiden angestrengt arbeitet; Chymus412 und Chylus413 zu bereiten; ebenfalls während, oder auch nach bedeutender Muskelanstrengung. Denn, es verhält sich mit den motorischen414, wie mit den sensibeln Nerven, und wie der Schmerz, den wir in verletzten Gliedern empfinden, seinen wahren Sitz im Gehirn hat; so sind es auch eigentlich nicht die Beine und die Arme, welche gehn und arbeiten; sondern das Gehirn, nämlich der Teil desselben, welcher, mittelst des verlängerten und des Rückenmarks, die Nerven jener Glieder erregt und dadurch diese in Bewegung setzt. Demgemäß hat auch die Ermüdung, welche wir in den Beinen oder Armen fühlen, ihren wahren Sitz im Gehirn; weshalb eben bloß die Muskeln ermüden, deren Bewegung willkürlich ist, d. h. vom Gehirn ausgeht, hingegen nicht die ohne Willkür arbeitenden, wie das Herz. Offenbar also wird das Gehirn beeinträchtigt, wenn man ihm starke Muskeltätigkeit und geistige Anspannung zugleich, oder auch nur dicht hintereinander abzwingt. Hiermit streitet es nicht, dass man im Anfang eines Spazierganges, oder überhaupt auf kurzen Gängen, oft erhöhte Geistestätigkeit spürt: denn da ist noch kein Ermüden besagter Gehirnteile eingetreten, und andererseits befördert eine solche leichte Muskeltätigkeit und die durch sie vermehrte Respiration415 das Aufsteigen oxydierten416 Blutes zum Gehirn. – Besonders aber gebe man dem Gehirn das zu seiner Reflexion nötige, volle Maß des Schlafes; denn der Schlaf ist für den ganzen Menschen, was das Aufziehen für die Uhr. Dieses Maß wird umso größer sein, je entwickelter und tätiger das Gehirn ist; es jedoch zu überschreiten wäre bloßer Zeitverlust, weil dann der der Schlaf an Intension417 verliert was er an Extension418 gewinnt. Überhaupt begreife man wohl, dass unser Denken nichts anderes ist, als die organische Funktion des Gehirns, und sonach jeder andern organischen Tätigkeit, in Hinsicht auf Anstrengung und Ruhe, sich analog verhält. Wie übermäßige Anstrengung die Augen verdirbt, ebenso das Gehirn. Mit Recht ist gesagt worden: das Gehirn denkt, wie der Magen verdaut. Der Wahn von einer immateriellen419, einfachen, wesentlich und immer denkenden, folglich unermüdlichen Seele, die da im Gehirn bloß logierte420, und nichts auf der Welt bedürfte, hat gewiss manchen zu unsinnigem Verfahren und Abstumpfung seiner Geisteskräfte verleitet; wie denn z. B. Friedrich der Große einmal versucht hat, sich das Schlafen ganz abzugewöhnen. Man soll sich gewöhnen, seine Geisteskräfte durchaus als physiologische Funktionen zu betrachten; um danach sie zu behandeln, zu schonen, anzustrengen usf., und zu bedenken, dass jedes körperliche Leiden, Beschwerde, Unordnung, in welchem Teil es auch sei, den Geist affiziert. Die Vernachlässigung des hier gegebenen Rats ist die Ursache, aus welcher manche großen Geister, wie auch große Gelehrte, im Alter schwachsinnig, kindisch und selbst wahnsinnig geworden sind. Dass z. B. die gefeierten englischen Dichter dieses Jahrhunderts, wie Walter Scott, Wordsworth421, Southey422 u.