Desgleichen, wenn man sich, was unmöglich ist, eine große Gesellschaft von lauter sehr verständigen und geistreichen Leuten denkt, bis auf zwei Dummköpfe, die auch dabei wären; so werden diese sich sympathetisch zueinander gezogen fühlen und bald wird jeder von beiden sich in seinem Herzen freuen, doch wenigstens einen vernünftigen Mann angetroffen zu haben. Wirklich merkwürdig ist es, Zeuge davon zu sein, wie zwei, besonders von den moralisch und intellektuell Zurückstehenden, beim ersten Anblick einander zu nähern streben, freundlich und freudig sich begrüßend, einander entgegeneilen, als wären sie alte Bekannte; – so auffallend ist es, dass man versucht wird, der Buddhistischen Metempsychosenlehre431 gemäß, anzunehmen, sie wären schon in einem früheren Leben befreundet gewesen.
Was jedoch, selbst bei vieler Übereinstimmung, Menschen auseinanderhält, auch wohl vorübergehende Disharmonie432 zwischen ihnen erzeugt, ist die Verschiedenheit der gegenwärtigen Stimmung, als welche fast immer für Seelen eine andere ist, nach Maßgabe seiner gegenwärtigen Lage, Beschäftigung, Umgebung, körperlichen Zustandes, augenblicklichen Gedankenganges usf. Daraus entstehen zwischen den harmonierendesten Persönlichkeiten Dissonanzen. Die zur Aufhebung dieser Störung erforderliche Korrektion stets vornehmen und eine gleichschwebende Temperatur einführen zu können, wäre eine Leistung der höchsten Bildung. Wie viel die Gleichheit der Stimmung für die gesellige Gemeinschaft leiste, lässt sich daran ermessen, dass sogar eine zahlreiche Gesellschaft zu lebhafter gegenseitiger Mitteilung und aufrichtiger Teilnahme, unter allgemeinem Behagen, erregt wird, sobald irgend etwas Objektives, sei es eine Gefahr oder Hoffnung, oder eine Nachricht, oder ein seltener Anblick, ein Schauspiel, eine Musik, oder was sonst, auf alle zugleich und gleichartig einwirkt. Denn dergleichen, indem es alle Privatinteressen überwältigt, erzeugt universelle Einheit der Stimmung. In Ermangelung einer solchen objektiven Einwirkung wird in der Regel eine subjektive ergriffen und sind demnach die Flaschen das gewöhnliche Mittel, eine gemeinschaftliche Stimmung in die Gesellschaft zu bringen. Sogar Tee und Kaffee dienen dieser Absicht.
Eben aber aus jener Disharmonie, welche die Verschiedenheit der momentanen Stimmung so leicht in alle Gemeinschaft bringt, ist es zum Teil erklärlich, dass in den von dieser und allen ähnlichen, störenden, wenn auch vorübergehenden Einflüssen befreiten Erinnerung sich jeder idealisiert, ja bisweilen fast verklärt darstellt. Die Erinnerung, wirkt, wie das Sammlungsglas in der Kamera obscura: sie zieht alles zusammen und bringt dadurch ein viel schöneres Bild hervor, als sein Original ist. Den Vorteil, so gesehen zu werden, erlangen wir zum Teil schon durch jede Abwesenheit. Denn obgleich die idealisierende Erinnerung, bis zur Vollendung ihres Werkes, geraumer Zeit bedarf: so wird der Anfang desselben doch sogleich gemacht. Deswegen ist es sogar klug, sich seinen Bekannten und guten Freunden nur nach bedeutenden Zwischenräumen zu zeigen; indem man alsdann, beim Wiedersehen, merken wird, dass die Erinnerung schon bei der Arbeit gewesen ist.
23. Keiner kann über sich sehen. Hiermit will ich sagen: jeder sieht am andern nur so viel, als er selbst auch ist: denn er kann ihn nur nach Maßgabe seiner eigenen Intelligenz fassen und verstehen. Ist nun diese von der niedrigsten Art, so werden alle Geistesgaben, auch die größten, ihre Wirkung auf ihn verfehlen und er an dem Besitzer derselben nichts wahrnehmen, als bloß das Niedrigste in dessen Individualität, also nur dessen sämtliche Schwächen, Temperaments- und Charakterfehler. Daraus wird er für ihn zusammengesetzt sein. Die höheren geistigen Fähigkeiten desselben sind für ihn so wenig vorhanden, wie die Farbe für den Blinden. Denn alle Geister sind dem unsichtbar, der keinen hat: und jede Wertschätzung ist ein Produkt aus dem Werte des Geschätzten mit der Erkenntnissphäre433 des Schätzers. Hieraus folgt, dass man sich mit Jedem, mit dem man spricht, nivelliert, indem alles, was man vor ihm voraus haben kann, verschwindet und sogar die dazu erforderte Selbstverleugnung völlig zuerkannt bleibt. Erwägt man nun, wie durchaus niedrig gesinnt und niedrig begabt, als wie durchaus gemein die meisten Menschen sind; so wird man einsehen, dass es nicht möglich ist, mit ihnen zu reden, ohne auf solche Zeit, selbst gemein zu werden, und dann wird man den eigentlichen Sinn und das Treffende des Ausdrucks »sich gemein machen« gründlich verstehen, jedoch auch gern jede Gesellschaft meiden, mit welcher man nur mittelst der Partie honteuse434 seiner Natur kommunizieren435 kann. Auch wird man einsehen, dass, Dummköpfen und Narren gegenüber, es nur einen Weg gibt, seinen Verstand an den Tag zu legen, und der ist, dass man mit ihnen nicht redet. Aber freilich wird alsdann in der Gesellschaft manchem bisweilen zumute sein, wie einem Tänzer, der auf einen Ball gekommen wäre, wo er lauter Lahme anträfe: mit wem soll er tanzen?
24. Der Mensch gewinnt meine Hochachtung, als ein unter hundert Auserlesener, welcher, wenn er auf irgend etwas zu warten hat, also unbeschäftigt dasitzt, nicht sofort mit dem, was ihm gerade in die Hände kommt, etwa seinem Stock oder Messer und Gabel, oder was sonst, taktmäßig hämmert oder klappert. Wahrscheinlich denkt er an etwas. Vielen Leuten hingegen sieht man an, dass bei ihnen das Sehen die Stelle des Denkens ganz eingenommen hat: sie suchen sich durch klappern ihrer Existenz bewusst zu werden; wenn nämlich kein Cigarro436 bei der Hand ist, der eben diesem Zwecke dient. Aus demselben Grunde sind sie auch beständig ganz Auge und Ohr für alles, was um sie vorgeht.
25. Rochefoucauld hat treffend bemerkt, dass es schwer ist, jemanden zugleich hoch zu verehren und sehr zu lieben. Demnach hätten wir die Wahl, ob wir uns um die Liebe oder um die Verehrung der Menschen bewerben wollen. Ihre Liebe ist stets eigennützig, wenn auch auf höchst verschiedene Weise. Zudem ist das, wodurch man sie erwirbt, nicht immer geeignet, uns darauf stolz zu machen.
1 comment