Hauptsächlich wird einer in dem Maße beliebt sein, als er seine Ansprüche an Geist und Herz der andern niedrig stellt, und zwar im Ernst und ohne Verstellung, auch nicht bloß aus derjenigen Nachsicht, die in der Verachtung wurzelt. Ruft man sich nun hierbei den sehr wahren Ausspruch des Helvetius437 zurück: Der Grad von Geist, der nötig ist, um uns zu gefallen, ist ein ganz genaues Maß des Grades von Geist, den wir haben; – so folgt aus diesen Prämissen die Konklusion. – Hingegen mit der Verehrung der Menschen steht es umgekehrt: sie wird ihnen nur wider ihren Willen abgezwungen, auch, eben deshalb, meistens verhehlt. Daher gibt sie uns, im Innern, eine viel größere Befriedigung: sie hängt mit unserm Werte zusammen; welches von der Liebe der Menschen nicht unmittelbar gilt: denn diese ist subjektiv, die Verehrung objektiv. Nützlich ist uns die Liebe freilich mehr.
26. Die meisten Menschen sind so subjektiv, dass im Grunde nichts Interesse für sie hat, als ganz allein sie selbst. Daher kommt es, dass sie bei allem, was gesagt wird, sogleich an sich denken und jede zufällige, noch so entfernte Beziehung auf irgend etwas ihnen Persönliches ihre ganze Aufmerksamkeit an sich reißt und in Besitz nimmt; so dass sie für den objektiven Gegenstand der Rede keine Fassungskraft übrig behalten; wie auch, dass keine Gründe etwas bei ihnen gelten, sobald ihre Interesse oder ihre Eitelkeit denselben entgegensteht. Daher sind sie so leicht zerstreut, so leicht verletzt, beleidigt oder gekränkt, dass man, von was es auch sei, objektiv mit ihnen redend, nicht genug sich in acht nehmen kann vor irgend welchen möglichen, vielleicht nachteiligen Beziehungen des Gesagten zu dem werten und zarten Selbst, das man da vor sich hat: denn ganz allein an diesem ist ihnen gelegen, sonst an nichts, und während sie für das Wahre und Treffende oder Schöne, Feine, Witzige der fremden Rede ohne Sinn und Gefühl sind, haben sie die zarteste Empfindlichkeit gegen jedes, was auch nur auf die entfernteste und indirekteste Weise ihre kleinliche Eitelkeit verletzen oder irgendwie nachteilig auf ihr höchst pretioses438 Selbst reflektieren könnte; so dass sie in ihrer Verletzbarkeit den kleinen Hunden gleichen, denen man, ohne sich dessen zu versehen, so leicht auf die Pfoten tritt und nun das Gequieke anzuhören hat; oder auch einem mit Wunden und Beulen bedeckten Kranken verglichen werden können, bei dem man auf das Behutsamste jede mögliche Berührung zu vermeiden hat. Bei manchen geht nun aber die Sache soweit, dass sie Geist und Verstand, im Gespräch mit ihnen an den Tag gelegt oder doch nicht genugsam versteckt, geradezu als eine Beleidigung empfinden, wenngleich sie solche vor der Hand noch verhehlen; wonach dann aber nachher der Unerfahrene vergeblich darüber nachsinnt und grübelt, wodurch in aller Welt er sich ihren Groll und Hass zugezogen haben könnte. Ebenso leicht aber sind sie auch geschmeichelt und gewonnen. Daher ist ihr Urteil meistens bestochen und bloß ein Ausspruch zugunsten ihrer Partei oder Klasse; nicht aber ein Objektives und Gerechtes. Dies alles beruht darauf, dass in ihnen der Wille bei weitem die Erkenntnis überwiegt und ihr geringer Intellekt ganz im Dienste des Willens steht, von welchen er auch nicht auf einen Augenblick sich losmachen kann.
Einen großartigen Beweis von der erbärmlichen Subjektivität der Menschen, infolge welcher sie alles auf sich beziehen und von jedem Gedanken sogleich in gerader Linie auf sich zurückgehen, liefert die Astrologie439, welche den Gang der großen Weltkörper auf das armselige Ich bezieht, wie auch die Kometen am Himmel in Verbindung bringt mit den irdischen Händeln und Lumpereien. Dies aber ist zu allen und schon in den ältesten Zeiten geschehen.
27. Bei jeder Verkehrtheit, die im publico oder in der Gesellschaft, gesagt oder in der Literatur geschrieben und wohl aufgenommen, wenigstens nicht widerlegt wird, soll man nicht verzweifeln und meinen, dass es nun dabei sein Bewenden haben werde; sondern wissen und sich getrösten, dass die Sache hinterher und allmählich ruminiert, beleuchtet, bedacht, erwogen, besprochen und meistens zuletzt richtig, beurteilt wird; so dass, nach einer, der Schwierigkeit derselben angemessenen Frist, endlich fast alle begreifen, was der klare Kopf sogleich sah. Unterdessen freilich muss man sich gedulden. Denn ein Mann von richtiger Einsicht unter den Betörten gleicht dem, dessen Uhr richtig geht, in einer Stadt, deren Turmuhren alle falsch gestellt sind. Er allein weiß die wahre Zeit: aber was hilft es ihm? alle Welt richtet sich nach den falsch zeigenden Stadtuhren; sogar auch die, welche wissen, dass seine Uhr allein die wahre Zeit angibt.
28. Die Menschen gleichen darin den Kindern, dass sie unartig werden, wenn man sie verzieht; daher man gegen keinen zu nachgiebig und liebreich sein darf. Wie man, in der Regel, keinen Freund dadurch verlieren wird, dass man ihm ein Darlehn abschlägt, aber sehr leicht dadurch, dass man es ihm gibt; ebenso, nicht leicht einen durch stolzes und etwas vernachlässigendes Betragen; aber oft infolge zu vieler Freundlichkeit und Zuvorkommens, als welche ihn arrogant440 und unerträglich machen, wodurch der Bruch herbeigeführt wird. Besonders aber den Gedanken, dass man ihrer benötigt sei, können die Menschen schlechterdings nicht vertragen; Übermut und Anmaßung sind sein unzertrennliches Gefolge. Bei einigen entsteht er, in gewissem Grade, schon dadurch, dass man sich mit ihnen abgibt, etwa oft oder auf eine vertrauliche Weise mit ihnen spricht: alsbald werden sie meinen, man müsse sich von ihnen auch etwas gefallen lassen, und werden versuchen, die Schranken der Höflichkeit zu erweitern. Daher taugen so wenige zum irgend vertrauterem Umgang, und soll man sich besonders hüten, sich nicht mit niedrigen Naturen gemein zu machen. Fasst nun aber gar einer den Gedanken, er sei mir viel nötiger, als ich ihm; da ist es ihm sogleich, als hätte ich ihm etwas gestohlen: er wird suchen, sich zu rächen und es wieder zu erlangen, Überlegenheit im Umgang erwächst allein daraus, dass man den andern in keiner Art und Weise bedarf, und dies sehn lässt. Dieserwegen ist es ratsam, jedem, es sei Mann oder Weib, von Zeit zu Zeit fühlbar zu machen, dass man seiner sehr wohl entraten könne: das befestigt die Freundschaft; ja, bei den meisten Leuten kann es nicht schaden, wenn man ein Gramm Geringschätzung gegen sie, dann und wann, mit einfließen lässt: sie legen desto mehr Wert auf unsere Freundschaft: wer nicht achtet, wird geachtet; sagt ein feines italienisches Sprichwort. Ist aber einer uns wirklich sehr viel wert; so müssen wir dies vor ihm verhehlen, als wäre es ein Verbrechen. Das ist nun eben nicht erfreulich; dafür aber wahr. Kaum dass Hunde die große Freundlichkeit vertragen; geschweige denn Menschen.
29. Dass Leute edlerer Art und höherer Begabung so oft, zumal in der Jugend, auffallenden Mangel an Menschenkenntnis und Weltklugheit verraten, daher leicht betrogen oder sonst irregeführt werden, während die niedrigen Naturen sich viel schneller und besser in die Welt zu finden wissen, liegt daran, dass man beim Mangel der Erfahrung, a priori zu urteilen hat, und dass überhaupt keine Erfahrung es dem a priori gleichtut. Dies a priori nämlich gibt denen vom gewöhnlichen Schlage das eigene Selbst an die Hand, den Edeln und Vorzüglichen aber nicht: denn eben als solche sind sie von den andern weit verschieden. Indem sie daher deren Denken und Tun nach dem ihrigen berechnen, trifft die Rechnung nicht zu.
Wenn nun aber auch ein solcher a posteriori441, also aus fremder Belehrung und eigener Erfahrung, endlich gelernt hat, was von den Menschen, im ganzen genommen, zu erwarten steht, dass nämlich etwa 5/6 derselben in moralischer oder intellektueller Hinsicht so beschaffen sind, dass, wer nicht durch die Umstände in Verbindung mit ihnen gesetzt ist, besser tut, sie vorweg zu meiden und, soweit es angeht, außer allem Kontakt mit ihnen zu bleiben; – so wird er dennoch von ihrer Kleinlichkeit und Erbärmlichkeit kaum jemals einen ausreichenden Begriff erlangen, sondern immerfort, so lange er lebt, denselben noch zu erweitern und zu vervollständigen haben, unterdessen aber sich gar oft zu seinem Schaden verrechnen. Und dann wieder, nachdem er die erhaltene Belehrung wirklich beherzigt hat, wird es ihm dennoch zu Zeiten begegnen, dass er, in eine Gesellschaft ihm noch unbekannter Menschen geratend, sich zu wundern hat, wie sie doch sämtlich, ihren Reden und Mienen nach, ganz vernünftig, redlich, aufrichtig, ehrenfest und tugendsam, dabei auch wohl noch gescheit und geistreich erscheinen.
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