Dies sollte ihn jedoch nicht irren: denn es kommt bloß daher, dass die Natur es nicht macht wie die schlechten Poeten, welche, wenn sie Schurken oder Narren darstellen, so plump und absichtsvoll dabei zu Werke gehen, dass man gleichsam hinter jeder solchen Person den Dichter stehen sieht, der ihre Gesinnung und Rede fortwährend desavouiert442 und mit warnender Stimme ruft: »Dies ist ein Schurke, dies ist ein Narr; gebt nichts auf das, was er sagt.« Die Natur hingegen macht es wie Shakespeare und Goethe, in deren Werken jede Person, und wäre sie der Teufel selbst, während sie dasteht und redet, Recht behält; weil sie so objektiv aufgefasst ist, dass wir in ihr Interesse gezogen und zur Teilnahme an ihr gezwungen werden: denn sie ist eben, wie die Werke der Natur, aus einem inneren Prinzip entwickelt, vermöge dessen ihr Sagen und Tun als natürlich, mithin als notwendig auftritt. Also wer erwartet, dass in der Welt die Teufel mit Hörnern und die Narren mit Schellen einhergehen, wird stets ihre Beute oder ihr Spiel sein. Hierzu kommt aber noch, dass im Umgange die Leute es machen wie der Mond und die Buckligen443, nämlich stets nur eine Seite zeigen, und sogar jeder ein angeborenes Talent hat, auf mimischem444 Wege seine Physiognomie zu einer Maske umzuarbeiten, welche genau darstellt, was er eigentlich sein sollte, und die, weil sie ausschließlich auf seine Individualität berechnet ist, ihm so genau anliegt und anpasst, dass die Wirkung überaus täuschend ausfällt. Er legt sie an, so oft es darauf ankommt, sich einzuschmeicheln. Man soll auf dieselbe soviel geben, als wäre sie aus Wachstuch, eingedenk des vortrefflichen italienischen Sprichworts: So böse ist kein Hund, dass er nicht mit dem Schwanze wedelte.

Jedenfalls soll man sich sorgfältig hüten, von irgendeinem Menschen neuer Bekanntschaft eine sehr günstige Meinung zu fassen; sonst wird man in den allermeisten Fällen, zu eigener Beschämung, oder gar Schaden, enttäuscht werden. – Hierbei verdient auch dies berücksichtigt zu werden: Gerade in Kleinigkeiten, als bei welchen der Mensch sich nicht zusammennimmt, zeigt er seinen Charakter, und da kann man oft, an geringfügigen Handlungen, an bloßen Manieren, den grenzenlosen, nicht die mindeste Rücksicht auf andere kennenden Egoismus bequem beobachten, der sich nachher im Großen nicht verleugnet, wiewohl verlarvt445. Und man versäume solche Gelegenheit nicht. Wenn einer in den kleinen täglichen Vorgängen und Verhältnissen des Lebens, in den Dingen, von welchen das: Um Nichtiges kümmert sich das Gesetz nicht, gilt, rücksichtslos verfährt, bloß seinen Vorteil oder seine Bequemlichkeit zum Nachteil anderer sucht; wenn er sich aneignet, was für alle da ist usf.; da sei man überzeugt, dass in seinem Herzen keine Gerechtigkeit wohnt, sondern er auch im Großen ein Schuft sein wird, sobald das Gesetz und die Gewalt ihm nicht die Hände binden, und traue ihm nicht über die Schwelle. Ja, wer ohne Scheu die Gesetze seines Klubs bricht, wird auch die des Staates brechen, sobald er es ohne Gefahr kann.

Hat nun einer, mit dem wir in Verbindung, oder Umgang stehen, uns etwas Unangenehmes, oder Ärgerliches erzeigt; so haben wir uns nur zu fragen, ob er uns so viel wert sei, dass wir das nämliche, auch noch etwas verstärkt, uns nochmals und öfter von ihm wollen gefallen lassen; – oder nicht. (Vergeben und Vergessen heißt gemachte kostbare Erfahrungen zum Fenster hinauswerfen.) Im bejahenden Falle wird nicht viel darüber zu sagen sein, weil das Reden wenig hilft: wir müssen also die Sache, mit oder ohne Ermahnung, hingehen lassen, sollen jedoch wissen, dass wir hierdurch sie uns nochmals ausgebeten haben. Im verneinenden Falle hingegen haben wir sogleich und auf immer mit dem werten Freunde zu brechen, oder, wenn es ein Diener ist, ihn abzuschaffen. Denn unausbleiblich wird er, vorkommendenfalls, ganz dasselbe, oder das völlig Analoge, wieder tun, auch wenn er uns jetzt das Gegenteil hoch und aufrichtig beteuert. Alles, alles kann einer vergessen, nur nicht sich selbst, sein eigenes Wesen. Denn der Charakter ist schlechthin inkorrigibel446; weil alle Handlungen des Menschen aus einem innern Prinzip fließen, vermöge dessen er, unter gleichen Umständen, stets das gleiche tun muss und nicht anders kann. Daher auch ist, sich mit einem Freunde, mit dem man gebrochen hatte, wieder auszusöhnen, eine Schwäche, die man abbüßt, wenn derselbe, bei erster Gelegenheit, gerade und genau dasselbe wieder tut, was den Bruch herbeigeführt hatte; ja, mit noch mehr Dreistigkeit, im stillen Bewusstsein seiner Unentbehrlichkeit. Das gleiche gilt von abgeschafften Dienern, die man wiedernimmt. Ebensowenig, und aus demselben Grunde, dürfen wir erwarten, dass einer, unter veränderten Umständen, das gleiche, wie vorher tun werde. Vielmehr ändern die Menschen Gesinnung und Betragen eben so schnell, wie ihr Interesse sich ändert; ja, ihre Absichtlichkeit zieht ihre Wechsel auf so kurze Sicht, dass man selbst noch kurzsichtiger sein müsste, um sie nicht protestieren zu lassen.

Gesetzt demnach, wir wollten etwas wissen, wie einer, in einer Lage, in die wir ihn zu versetzen gedenken, handeln wird; so dürfen wir hierüber nicht auf seine Versprechungen und Beteuerungen bauen. Denn, gesetzt auch, er spräche aufrichtig, so spricht er von einer Sache, die er nicht kennt. Wir müssen also allein aus der Erwägung der Umstände, in die er zu treten hat, und des Konfliktes derselben mit seinem Charakter, sein Handeln berechnen.

Um überhaupt von der wahren und sehr traurigen Beschaffenheit der Menschen, wie sie meistens sind, das so nötige, deutliche und gründliche Verständnis zu erlangen, ist es überaus lehrreich, das Treiben und Benehmen derselben in der Literatur als Kommentar ihres Treibens und Benehmens im praktischen Leben zu gebrauchen. Dies ist sehr dienlich, um weder an sich, noch an ihnen irre zu werden. Dabei aber darf kein Zug von besonderer Niederträchtigkeit oder Dummheit, der uns im Leben oder in der Literatur aufstößt, uns je ein Stoff zum Verdruss und Ärger, sondern bloß zur Erkenntnis werden, indem wir in ihm einen neuen Beitrag zur Charakteristik des Menschengeschlechts sehn und demnach ihn uns merken. Alsdann werden wir ihn ungefähr so betrachten, wie der Mineralog447 ein ihm aufgestoßenes, sehr charakteristisches Spezimen448 eines Minerals. – Ausnahmen gibt es, ja, unbegreiflich große, und die Unterschiede der Individualitäten sind enorm: aber, im ganzen genommen, liegt, wie längst gesagt ist, die Welt im argen: die Wilden fressen einander, und die Zahmen betrügen einander, und das nennt man den Lauf der Welt. Was sind denn die Staaten, mit aller ihrer künstlichen, nach außen und nach innen gerichteten Maschinerie und ihren Gewaltmitteln anders, als Vorkehrungen, der grenzenlosen Ungerechtigkeit der Menschen Schranken zu setzen? Sehn wir nicht in der ganzen Geschichte, jeden König, sobald er feststeht, und sein Land einiger Prosperität449 genießt, diese benützen, um mit seinem Heer, wie mit einer Räuberschar, über die Nachbarstaaten herzufallen? Sind nicht fast alle Kriege im Grunde Raubzüge? Im frühen Altertum, wie auch zum Teil im Mittelalter, wurden die Besiegten Sklaven der Sieger, d. h. im Grunde, sie mussten für diese arbeiten: dasselbe müssen aber die, welche Kriegskontributionen450 zahlen: sie geben nämlich den Ertrag früherer Arbeit hin. Alle Kriege sind nur Raubzüge, sagt Voltaire, und die Deutschen sollen es sich gesagt sein lassen.

30. Kein Charakter ist so, dass er sich selbst überlassen bleiben und sich ganz und gar gehen lassen dürfte; sondern jeder bedarf der Lenkung durch Begriffe und Maximen. Will man nun aber es hierin weit bringen, nämlich bis zu einem nicht aus unserer angebornen Natur, sondern bloß aus vernünftiger Überlegung hervorgegangenen, ganz eigentlich erworbenen und künstlichen Charakter; so wird man gar bald das:

Und wenn du die Natur auszupeitschen versuchst,
wird sie doch immer wieder hervorbrechen

bestätigt finden.